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Eine einzige Wellenfunktion?
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Jupp_@
Gast





Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 19. Jul 2023 10:06    Titel: Eine einzige Wellenfunktion? Antworten mit Zitat

Meine Frage:
Hallo zusammen, ich hätte mal eine Frage zur Quantenmechanik (bin Laie).

In einem älteren Off Topic Thema habe ich mal in einem Beitrag von TomS gelesen, dass die Quantenmechanik mathematisch ganz klar sagen würde, dass es nur eine Wellenfunktion mit verschiedenen mikroskopischen Zweigen geben würde, die aber auch alle realisiert wären. Dann wäre aber die Viele-Welten Interpretation zwingend, oder sehe ich das falsch?

Meine Ideen:
Da es ja anscheinend noch andere Interpretationen gibt, mache ich vermutlich einen Denkfehler. Oder wie ist das sonst zu verstehen (alle Zweige bzw Zustände sind realisiert?)?
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 19. Jul 2023 12:45    Titel: Re: Eine einzige Wellenfunktion? Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
In einem älteren Off Topic Thema habe ich mal in einem Beitrag von TomS gelesen, dass die Quantenmechanik mathematisch ganz klar sagen würde, dass es nur eine Wellenfunktion mit verschiedenen mikroskopischen Zweigen geben würde, die aber auch alle realisiert wären. Dann wäre aber die Viele-Welten Interpretation zwingend, oder sehe ich das falsch?

Anders herum: wenn wir annehmen, dass die Wellenfunktion und ihre Dynamik (Zeitentwicklung) die objektive Realität (nicht nur die subjektive Wahrnehmung, Messung) tatsächlich beschreibt, dann ist die Viele-Welten Interpretation nach heutigem Kenntnisstand zwingend (da der Kollaps der Wellenfunktion eine explizite Inkonsistenz zur unitären Zeitentwicklung einführen würde)

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Da es ja anscheinend noch andere Interpretationen gibt, mache ich vermutlich einen Denkfehler. Oder wie ist das sonst zu verstehen (alle Zweige bzw Zustände sind realisiert?)?

Der Punkt ist, dass man den Anspruch aufgeben kann, die Quantenmechanik wäre ein Abbild der Realität (d.h. sie wäre dann lediglich ein Werkzeug zur Berechnung von Messergebnissen). Damit kann man auch die Viele-Welten-Interpretation vermeiden.

Weitere Möglichkeiten bestehen darin, diesen Anspruch aufrechtzuerhalten, jedoch i) zu zeigen, dass für makroskopische Systeme dieser vielen Zweige mathematisch tatsächlich nicht resultieren (wir also einem Scheinproblem hinterherlaufen), oder ii) die Mathematik der Quantenmechanik explizit zu modifizieren, so dass eine Art realer Kollaps eingebaut wird (also eine andere Theorie zu konstruieren).

Ein anderes, nicht ganz so extremes Beispiel: wenn ich behaupte, die ART beschreibe die Realität, dann bin ich gezwungen, die Existenz schwarzer Löcher zu akzeptieren. Auswege wären, die ART beschreibe nur bestimmte Beobachtungen (hat so noch niemand betrachtet), die ART sage für reale Systeme tatsächlich keine Schwarzen Löcher vorher (wurde tatsächlich vermutet, jedoch von Hawking und Penrose widerlegt), die ART muss modifiziert werden (ist heute die Mainstream-Meinung zu Theorien der Quantengravitation).

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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.
Jupp_@
Gast





Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 19. Jul 2023 13:03    Titel: Antworten mit Zitat

Ah okay, verstehe. Ist dann die Viele Welten Theorie die einzige realistische Interpretation?

Wie ist es mit anderen Interpretationen, von denen man so liest? Zb Bohm, oder hier im Forum habe ich auch von einer thermischen Interpretation gelesen?
TomS
Moderator


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Beiträge: 18082

Beitrag TomS Verfasst am: 19. Jul 2023 22:02    Titel: Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Ah okay, verstehe. Ist dann die Viele Welten Theorie die einzige realistische Interpretation?

Wie ist es mit anderen Interpretationen, von denen man so liest? Zb Bohm, oder hier im Forum habe ich auch von einer thermischen Interpretation gelesen?

Die Viele-Welten-Interpretation ist sicher mit großen Abstand diejenige, die am besten ausgearbeitet ist.

Die Bohmsche Interpretation ist schon auf den ersten Blick irritierend, da sie eine seltsame Doppel-Ontologie mit Teilchen und Wellen aufweist. Die Probleme werden größer, wenn man zusätzlich Spin und andere interne Freiheitsgrade betrachtet, da diese nicht als klassische Eigenschaften an den Teilchen hängen können, sondern nur an der Wellenfunktionen; das wird bei Mehrteilchen-Systemen und verschränkten Wellenfunktionen ziemlich widersinnig, da es eben nur bei den Orten und Impulsen irgendwie nett aussieht ...

Die thermische Interpretation räumt zunächst mal mit einigen falschen Vorstellungen bzgl. Teilchen und deren Messung auf. Zu Ende gedacht hat sie ein großes Problem bzw. führt auf eine essentielle jedoch nur ansatzweise verstandene Hypothese, dass nämlich makroskopische Superpositionen lediglich mathematische Artefakte unzureichender Näherungen sind, und in der Tat für eine Messung (= Detektion eines teilchenartigen Phänomens) auch mathematisch ein (bis auf geringe Unschärfen) eindeutiger Messwert resultiert. Der Mechanismus dahinter ist kein zusätzliches Kollaps-Postulat, sondern sei eine Folge der effektiv nicht-linearen Dynamik, stochastische Phänomene ähnlich dem klassischen Chaos den nicht exakt bekannten Anfangsbedingungen geschuldet. Wenn dies zuträfe, wäre es natürlich eine Revolution.

Evtl. meldet sich index_razor wieder mal, er hat sich viel tiefer damit befasst.

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Jupp_@
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Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 20. Jul 2023 07:38    Titel: Antworten mit Zitat

Vielen Dank für die Übersicht,

Ich finde, dass vor allem die thermische Interpretation Interessant klingt. Also wurde diese auch noch nicht widerlegt (Bell Ungleichungen etc)?
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18082

Beitrag TomS Verfasst am: 20. Jul 2023 08:38    Titel: Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Ich finde, dass vor allem die thermische Interpretation Interessant klingt. Also wurde diese auch noch nicht widerlegt (Bell Ungleichungen etc)?

Letzteres ist in der Tat einer der Knackpunkt.

Vereinfacht gesagt besagt die thermische Interpretation (TI), dass die Dynamik eines quantenmechanischen Vielteilchensystems zu gut lokalisierten, teilchenartigen Detektorereignissen führt. Diese zeigen Eigenschaften, die wir mit Energie, Impuls, Spin etc. assoziieren, aber gemäß TI messen wir eben nicht den Ort oder den Spin eines Teilchens an sich, sondern etwas deutlich Komplexeres, aus dem wir dann auf Ort, Spin etc. und überhaupt erst dieses eine Teilchen zurückschließen (1).

Die Lokalisierung erfolgt gemäß TI durch lokale Wechselwirkungen. In einem Bell-Experiment an zwei verschränkten Elektronen mit zwei weit voneinander entfernten Stern-Gerlach-Apparaten kann nicht innerhalb eines Stern-Gerlach-Apparates "Lokalisierung und Detektion oben entsprechend Spin up" entstehen und an den anderen Apparat kommuniziert werden, ohne die Ergebnisse von Bell bzw. die Lorentz-Invarianz zu verletzen. Andererseits kann jedoch die "Entscheidung" für beide Teilchen auch nicht bereits an der Quelle vorliegen, wie wir aus zig Experimenten wissen (2).

Nun erfolgen jedoch die Bellschen Überlegungen immer anhand einzelner, idealisierter Teilchen, während die TI (1) immer im Sinne eines Vielteilchenproblems zu verstehen ist und diese Idealisierung und Separation von "Teilchen" und "Messung" ihr zufolge lediglich ein Artefakt darstellt, das nicht der Realität entspricht. Jedoch liefert gerade diese Idealisierung die korrekten Ergebnisse (2).

Die TI müsste also einen Formalismus im Sinen von (1) präsentieren, der es erlaubt, die selben Ergebnisse wie mittels (2) zu erhalten. Und das ist nach meinem Verständnis einiger Aussagen des Autors völlig außerhalb jeglicher Reichweite; nicht einmal die notwendigen Ansätze wären seiner Meinung nach konkret formulierbar.

Ich habe zwar schon Kritik in diese Richtung der Bellschen Ergebnisse gesehen (und auch selbst diskutiert), jedoch nie konkrete mathematische Ansätze im Rahmen der TI. D.h. es ist noch nicht einmal möglich, dieses Unbehagen angesichts (2) anhand eines Ansatzes (1) zu konkretisieren und diesen speziellen Ansatz mathematisch zu widerlegen, d.h. zu zeigen, dass er keine Ergebnisse im Sinne von (2) liefern kann - also eine Art no-go-Theorem *)

Andererseits ist es natürlich ein spannender Gedanke, das Messproblem sei letztlich ein Scheinproblem.


*) wobei diese sich in der Physik meist dadurch auszeichnen, dass mannigfaltige Schlupflöcher bei den Annahmen existieren, so dass oft von dem eigentlichen Theorem nicht mehr viel übrig bleibt

https://en.wikipedia.org/wiki/Coleman%E2%80%93Mandula_theorem
https://en.wikipedia.org/wiki/Weinberg%E2%80%93Witten_theorem
https://en.wikipedia.org/wiki/Goldstone_boson#Goldstone's_theorem

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Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 20. Jul 2023 09:14    Titel: Antworten mit Zitat

Vielen Dank für diese interessanten Ausführungen.

Das klingt für mich fast so, dass die TI zwar nicht widerlegt werden kann, aber so wirklich kann sie ihre Kritikpunkte nicht aus der Welt schaffen.
Arnold Neumaier, der Schaffer der TI, hat sogar etwas in Englisch zur Bällchen Ungleichung im Bezug auf die TI auf seiner Homepage geschrieben, aber da bin ich als Laie raus.
TomS
Moderator


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Beiträge: 18082

Beitrag TomS Verfasst am: 20. Jul 2023 09:29    Titel: Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Das klingt für mich fast so, dass die TI zwar nicht widerlegt werden kann, aber so wirklich kann sie ihre Kritikpunkte nicht aus der Welt schaffen.

Nein, man muss das positiver und globaler sehen.

Neumaier räumt mit den Mythos auf, hier sei ein isoliertes Teilchen und dort werden die Eigenschaften (Observablen) dieses Teilchens gemessen; das ist schlicht falsch. Er stellt eine realistische Theorie insbs. des Messprozesses in den Mittelpunkt, d.h. er fordert letztlich, nicht irgendwelche idealisierten Konstrukte zu interpretieren, sondern das, was Sache ist.

Damit entwirft er letztlich ein völlig normales Forschungsprogramm.
1) Zeigen sie diese Eigenschaften der Navier-Stokes-Gleichung
2) Diskutieren sie jene Konsequenzen der von-Neumann-Gleichung

Während bei (1) jeder mitgeht, ist (2) eine Zumutung für die meisten Physiker, und das finde ich genial.

Siehe auch meine Signatur.

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Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 20. Jul 2023 11:42    Titel: Antworten mit Zitat

Alles klar, dann ist die TI also noch nicht raus?!
Ich finde sie definitiv nicht uninteressant....und Schwierigkeiten hat ja an manchen Stellen jede Interpretation (die eine mehr, die andere weniger).
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18082

Beitrag TomS Verfasst am: 20. Jul 2023 12:46    Titel: Antworten mit Zitat

Sie hatte ja noch nicht mal die Gelegenheit, sich längere Zeit auf der großen Bühne zu beweisen.

Das ist doch auch ein soziologischer Aspekt.

Die Denkverbote aus dem Umfeld Bohrs und die krude zusammengestückelte Interpretation ist knapp 100 Jahre alt. Everett’s Idee ist ca. 70 Jahre alt und erhielt von der mathematischen Seite einige Jahrzehnte später ein starkes Fundament, insbs. durch die Dekohärenz. Es gibt noch mehr davon …

Und dann kommt vor ein paar Jahren ein Mathematiker und erklärt den Physikern, dass es evtl. gar nix zu rätseln gäbe, weil sie schlicht ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, nämlich tatsächlich reale Probleme zu betrachten.

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Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 20. Jul 2023 12:46    Titel: Antworten mit Zitat

Ach ja, ich hätte hier auch gleich nochmal eine ganz andere Frage. Vielleicht weiß ja jemand was dazu. Und zwar habe ich gelesen, dass auch die klassische Mechanik bereits indeterminiert sei, was mit dem Gedankenexperiment "Nortons Dome" oder auch bekannt als Kuppelparadoxon anscheinend gezeigt wird. Doch ist das Experiment und die Schlussfolgerung so gültig? Ich dachte immer, bei Newton sei alles klar determiniert.
Sonnenwind



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Beitrag Sonnenwind Verfasst am: 20. Jul 2023 12:50    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Damit entwirft er letztlich ein völlig normales Forschungsprogramm.
1) Zeigen sie diese Eigenschaften der Navier-Stokes-Gleichung
2) Diskutieren sie jene Konsequenzen der von-Neumann-Gleichung

Entschuldigung, aber gibt es irgendeine Gleichung, die aus der klassischen Wahrscheinlichkeitsdichte des Konfigurationsraums oder des Phasenraums das Entstehen eines konkreten Messergebnisses begründet?

Da heißt es doch auch nur: Der Physiker schaut auf das Messgerät und sieht ein Ergebnis entsprechend der (klassischen) Wahrscheinlichkeitsdichte.

Letztlich kann man doch den Messprozess widerspruchsfrei in die Qualia des Physikers legen. Damit heben sich zwei metaphysische Probleme wenigstens gegenseitig auf. smile

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Zuletzt bearbeitet von Sonnenwind am 20. Jul 2023 12:59, insgesamt einmal bearbeitet
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 20. Jul 2023 12:55    Titel: Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
… habe ich gelesen, dass auch die klassische Mechanik bereits indeterminiert sei, was mit dem Gedankenexperiment "Nortons Dome" oder auch bekannt als Kuppelparadoxon anscheinend gezeigt wird.

"Nortons Dome" zeigt höchstens, dass das spezielle mathematische Modell "Nortons Dome" nicht determiniert ist.

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DrStupid



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Beitrag DrStupid Verfasst am: 20. Jul 2023 13:45    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
"Nortons Dome" zeigt höchstens, dass das spezielle mathematische Modell "Nortons Dome" nicht determiniert ist.


Liegt dieses Modell nicht im Gültigkeitsbereich der klassischen Mechanik?
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 20. Jul 2023 15:29    Titel: Antworten mit Zitat

DrStupid hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
"Nortons Dome" zeigt höchstens, dass das spezielle mathematische Modell "Nortons Dome" nicht determiniert ist.

Liegt dieses Modell nicht im Gültigkeitsbereich der klassischen Mechanik?

Ich denke, da kann man sich streiten.

1) Mir ging es nur darum, ob "… auch die klassische Mechanik bereits indeterminiert sei", und ich denke, dass ein singuläres Modell lediglich zeigt, dass dieses eine Modell nicht determiniert ist.

2) Dann kann man natürlich fragen, was "die klassische Mechanik" denn genau ist. Möchte man das mathematisch präzisieren, würde man eben geeignete Bedingungen an die Differentialgleichungen stellen, was diesen pathologisch Fall ausschließt.

3) Betrachten wir Potentiale der Form



Auch da haben wir teilweise pathologische Eigenschaften, in der Quantenmechanik z.B. ein nach unten unbeschränktes Spektrum, d.h. keinen Grundzustand. Und?

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Beitrag DrStupid Verfasst am: 20. Jul 2023 17:55    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
1) Mir ging es nur darum, ob "… auch die klassische Mechanik bereits indeterminiert sei", und ich denke, dass ein singuläres Modell lediglich zeigt, dass dieses eine Modell nicht determiniert ist.


Aber dieses singuläre Modell ist doch nur ein konkretes Beispiel für unendlich viele solcher Fälle. Nimm z.B. ein Potential der Form



mit 1<n<2 und Du hast dasselbe Problem. Das ist noch nicht einmal besonders exotisch, sondern im Vergleich zum beliebten 1/r-Potential geradezu gutmütig. Um sagen zu können, dass die klassische Mechanik determiniert ist, müsste man solche Fälle generell ausschließen - und zwar möglichst mit einer anderen Begründung als der, dass man sie gerne determiniert hätte.
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 20. Jul 2023 18:38    Titel: Antworten mit Zitat

DrStupid hat Folgendes geschrieben:
Nimm z.B. ein Potential der Form



mit 1<n<2 und Du hast dasselbe Problem.

Was genau meinst du mit "dasselbe Problem"?

Zunächst mal haben wir in der klassischen Mechanik das Problem mathematisch nur in isolierten Punkten, also einer Nullmenge.

In der Quantenmechanik gehen wir von quadratintegrablen Funktionen aus. Wenn ich mich richtig erinnere, stellen die differenzierbaren Funktionen (wg. Impulsoperator) dabei nur eine Nullmenge dar. Also genau umgekehrt, aber es stört ganz offensichtlich nicht.

Ich weiß nicht, ob es überhaupt eine Begründung braucht, außer dass die so konstruierten Fälle physikalisch irrelevant sind.

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Beitrag DrStupid Verfasst am: 20. Jul 2023 18:57    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Was genau meinst du mit "dasselbe Problem"?


Es ist nicht vorhersagbar, ob und wenn ja wann sich ein bei r=0 ruhender Massepunkt bewegen wird (bzw. in der Vergangenheit bewegt hat).

TomS hat Folgendes geschrieben:
Zunächst mal haben wir in der klassischen Mechanik das Problem mathematisch nur in isolierten Punkten, also einer Nullmenge.


Davon abgesehen, dass Du das erst noch beweisen musst, genügt für die Falsifizierung einer Aussage (zum Beispiel über den Laplaceschen Dämon) ein einziges Gegenbeispiel.
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 20. Jul 2023 19:10    Titel: Antworten mit Zitat

Also im Falle von Norton’s Dome ist das Problem tatsächlich ein einziger Punkt; dort liegt keine Lipschitz-Stetigkeit vor.

Und was meinst du mit einem Gegenbeispiel? Nur, wenn die Aussage "die Newtonsche Mechanik …" so gewählt wird.

Aber das ist etwas völlig anderes als in der Quantenmechanik. In der Newtonschen Mechanik tritt diese Art von Indeterminismus in sehr speziell konstruierten Problemen auf, die offensichtlich praktisch irrelevant sind. In der Quantenmechanik tritt Indeterminismus immer auf - wenn eine Messung ins Spiel kommt, und das ist dann immer praktisch relevant.

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Beitrag DrStupid Verfasst am: 20. Jul 2023 20:01    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Und was meinst du mit einem Gegenbeispiel?


Nehmen wir mal die Aussage "Alle ganzen Zahlen sind ungleich Null." Die wird mit der Null als Gegenbeispiel falsizifiert. Da spielt es auch keine Rolle, dass die Null nur eine einzige von unendlich vielen ganzen Zahlen ist. Anders wäre es, wenn es z.B. um die Aussage "Fast alle ganzen Zahlen sind ungleich Null." geht. Da würde Dein Argument mit der Nullmenge greifen.

Genauso ist auch die klassische Mechanik bestenfalls fast immer determiniert - und selbst dafür müsste man beweisen, dass die Gegenbeispiele wirklich eine Nullmenge bilden. Vielleicht gibt es ja so einen Beweis, aber gehört habe ich noch nicht davon.

TomS hat Folgendes geschrieben:
Aber das ist etwas völlig anderes als in der Quantenmechanik.


Natürlich ist es das. Aber es ist trotzdem bemerkenswert, dass es in der klassischen Mechanik theoretisch echten Zufall gibt - auch wenn er praktisch nicht relevant ist.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
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Beitrag TomS Verfasst am: 21. Jul 2023 00:06    Titel: Antworten mit Zitat

DrStupid hat Folgendes geschrieben:
Genauso ist auch die klassische Mechanik bestenfalls fast immer determiniert.

Können wir die Aussage präzisieren?

Alle mathematischen Probleme im Rahmen der Newtonschen Mechanik sind determiniert, d.h. haben jeweils eine eindeutige Funktionen der Zeit als Lösung.

Ja, dieser Satz ist falsch.

Die Frage für mich ist, in wie weit er physikalisch relevant ist.

DrStupid hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Aber das ist etwas völlig anderes als in der Quantenmechanik.

Natürlich ist es das. Aber es ist trotzdem bemerkenswert, dass es in der klassischen Mechanik theoretisch echten Zufall gibt - auch wenn er praktisch nicht relevant ist.

Ja, da stimme ich dir zu.

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TomS
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Anmeldungsdatum: 20.03.2009
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Beitrag TomS Verfasst am: 21. Jul 2023 00:13    Titel: Antworten mit Zitat

Sonnenwind hat Folgendes geschrieben:
… gibt es irgendeine Gleichung, die aus der klassischen Wahrscheinlichkeitsdichte des Konfigurationsraums oder des Phasenraums das Entstehen eines konkreten Messergebnisses begründet?

Nein.

Aber es gibt in der klassischen Physik auch keine fundamentale Notwendigkeit, nur die Wahrscheinlichkeitsdichte anstatt der Trajektorien zu betrachten.

Die Behauptungen der TI ist, dass es sich in der Quantenmechanik genauso verhält. Die Theorie liefert nicht nur Wahrscheinlichkeiten sondern – genügend präzise Kenntnis der Anfangsbedingungen vorausgesetzt – je einzelnem Run eines Experiments das eine eindeutige Messergebnis.

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Anmeldungsdatum: 25.04.2022
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Beitrag Sonnenwind Verfasst am: 21. Jul 2023 07:04    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Sonnenwind hat Folgendes geschrieben:
… gibt es irgendeine Gleichung, die aus der klassischen Wahrscheinlichkeitsdichte des Konfigurationsraums oder des Phasenraums das Entstehen eines konkreten Messergebnisses begründet?

Nein.

Aber es gibt in der klassischen Physik auch keine fundamentale Notwendigkeit, nur die Wahrscheinlichkeitsdichte anstatt der Trajektorien zu betrachten.

Die Behauptungen der TI ist, dass es sich in der Quantenmechanik genauso verhält. [...]

Und worin genau unterscheidet sich die TI dann von der Bohmschen Mechanik? Hat die TI Trajektorien oder nicht?

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Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 21. Jul 2023 08:48    Titel: Antworten mit Zitat

Ich hätte hier gleich noch eine weitere Frage, das ist hoffentlich okay:

Gemäß der Bellschen Ungleichung darf ich ja Quantenobjekten keine definierten Eigenschaften wie makroskopischen Objekten zuschreiben. Doch heißt das dann im Umkehrschluss, dass unsere makroskopischen Objekte (zb das Glas Wasser, das gerade neben mir steht) in echt gar keine Eigenschaften hat und diese alle nur eine Illusion sind? Oder kann man die Entstehung von makroskopischen Eigenschaften aus der Quantenmechanik herleiten (unabhängig von irgendwelchen Interpretation)?
Danke für eure Hilfe
DrStupid



Anmeldungsdatum: 07.10.2009
Beiträge: 5044

Beitrag DrStupid Verfasst am: 21. Jul 2023 09:19    Titel: Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Gemäß der Bellschen Ungleichung darf ich ja Quantenobjekten keine definierten Eigenschaften wie makroskopischen Objekten zuschreiben.


Nein, Quantenobjekte haben definerte Eigenschaften. Masse und Ladung eines Elektrons stehen beispielsweise immer eindeutig fest. Bei der Bellschen Ungleichung geht es um Parameter, die erst mit der Messung bekannt werden. Die kann man dem Objekt vor der Messung tatsächlich nicht zuschreiben.

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Doch heißt das dann im Umkehrschluss, dass unsere makroskopischen Objekte (zb das Glas Wasser, das gerade neben mir steht) in echt gar keine Eigenschaften hat und diese alle nur eine Illusion sind?


Nein, das heißt es nicht. Es wird zwar häufig so dargestellt, dass die Eigenschaften, um die es z.B. in der Bellschen Ungleichung geht, erst mit einer Messung feststehen, aber tatsächlich können sie mit jeder Wechselwirkung festgelegt werden, bei der sie eine Rolle spielen. In makroskopischen Objekten gibt es bei Raumtemperatur so viele Wechselwirkungen, dass überlagerte Zustände praktisch sofort zerstört werden. Selbst bei mikroskoppischen Objekten muss man sehr großen Aufwand treiben, um das zu verhindern.
Jupp_@
Gast





Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 21. Jul 2023 10:01    Titel: Antworten mit Zitat

Alles klar,

Ich hatte schon manchmal fälschlicherweise den Eindruck, man sollte auch die klassischen Eigenschaften für makroskopische Objekte über den Haufen werfen. Wenn dem nicht so ist, bin ich beruhigt.

Danke für eure Hilfe.
Jupp_@
Gast





Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 21. Jul 2023 12:11    Titel: Antworten mit Zitat

Ach ja, mit den Eigenschaften makroskopischer Objekte, wie beim Wasserglas, meinte ich jetzt nicht speziell Quanteneigenschaften, sondern eher klassische. Zb Dichte des Fluids, Masse, Temperatur etc. Aber ich denke, auch die sollten auch mit der Quantenmechanik als Hintergrund keine Illusion sein (auch wenn sich die Qm nicht mit Temperaturen und Dichten eines Mediums beschäftigt).
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
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Beitrag TomS Verfasst am: 21. Jul 2023 12:30    Titel: Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Gemäß der Bellschen Ungleichung darf ich ja Quantenobjekten keine definierten Eigenschaften wie makroskopischen Objekten zuschreiben.

Als Ergänzung zu DrStupid:

Das Problem steckt auch in den Begriffen und in der Perspektive.

Ein abgeschlossenes Quantensystem hat quantenmechanische und scharf definiert Eigenschaften - seinen Zustand d.h. mathematisch der Zustandsvektor bzw. die Wellenfunktion; das trifft auch Systeme mit Verschränkung zu.

Ein Problem tritt erst auf, wenn man offene Quantensysteme betrachtet, auch im Zuge einer Messung, und wenn man von klassischen Eigenschaften spricht; letztere sind normalerweise nicht scharf definiert, und sie dürfen eben nicht einfach einem Subsystem zugeschrieben werden.

D.h. die Quantenmechanik ist bzgl. Unschärfe und Verschränkung ziemlich fremdartig. Es erschwert aber das Verständnis zusätzlich, wenn man dies aus der klassischen Perspektive her verstehen möchte.

Einfaches Beispiel: wenn man das elektromagnetische Spektrum z.B. der Sonne verstehen möchte, ist die Perspektive des RGB-Farbraums schlicht Käse. Der Ansatz ist unzureichend, es ist einfacher, das elektromagnetische Spektrum direkt zu verstehen. Bei der Erklärung der Quantenmechanik wird aber oft nicht unterschieden zwischen intrinsischen Problemen und Problemen, die durch den ungeeigneten Zugang entstehen.

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Zuletzt bearbeitet von TomS am 21. Jul 2023 15:56, insgesamt einmal bearbeitet
TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 21. Jul 2023 12:35    Titel: Antworten mit Zitat

Sonnenwind hat Folgendes geschrieben:
Und worin genau unterscheidet sich die TI dann von der Bohmschen Mechanik? Hat die TI Trajektorien oder nicht?

Die TI kommt letztlich von der Quantenfeldtheorie her. Sie spricht auf der fundamentalen Ebene nicht von Teilchen und deren Trajektorien; teilchenartige Effekte resultieren lediglich in bestimmten Situationen (Nebeljammer, Detektoren …)

Der Chemiker denkt auch nicht fundamental in Buttermilch und Salzbrezeln.

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Anmeldungsdatum: 25.04.2022
Beiträge: 678

Beitrag Sonnenwind Verfasst am: 21. Jul 2023 14:32    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Die TI kommt letztlich von der Quantenfeldtheorie her. Sie spricht auf der fundamentalen Ebene nicht von Teilchen und deren Trajektorien; teilchenartige Effekte resultieren lediglich in bestimmten Situationen (Nebeljammer, Detektoren …)

Und wenn ich mir beim Bäcker ein Teilchen kaufe eben auch.

Die TI muss selbstverständlich auch den Begriff des Teilchens enthalten. Und wenn Teilchen nur komprimierte Wellen sind, dann muss sie eben erklären, warum sich die Wellen komprimieren.

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Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 21. Jul 2023 14:39    Titel: Antworten mit Zitat

Ok danke für die Erklärungen.

Mein Fehlverständnis war eher: ist unsere klassische Welt, die wir wahrnehmen, nur eine Illusion?
Richtiger ist wahrscheinlich, dass die klassische Welt aus der Quantenmechanik folgt und somit auch die klassischen physikalischen Eigenschaften. (Auch das jetzt mal unabhängig von einer Interpretation)
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18082

Beitrag TomS Verfasst am: 21. Jul 2023 16:13    Titel: Antworten mit Zitat

Sonnenwind hat Folgendes geschrieben:
Die TI muss selbstverständlich auch den Begriff des Teilchens enthalten.

Muss sie auf fundamentaler Ebene nicht.

Der Punkt ist, dass die gesamte Sprache von unpräzisen und verkürzten Aussagen und irreführenden Assoziationen durchzogen ist - insbs. außerhalb der theoretischen Physik. Niemand hat je ein Teilchen gesehen, lediglich kollektive emergente Phänomene, die man als teilchenartige Phänomene bezeichnen darf, verkürzt „Teilchen“. Das aber nun mit klassischen Teilchen zu assoziieren ist ziemlicher Quatsch. Auch die Idee, es gäbe gemäß der Bohmschen Mechanik diese klassischen Teilchen ist sinnlos - solange keine entsprechende Formulierung der QFT vorliegt, und davon sind wir Lichtjahre entfernt.

Was die TI leisten muss und will ist, eindeutig lokalisierte, teilchenartige Phänomene zu erklären, genauso wie die Atom- und Molekülphysik Flüssigkeitsoberflächen erklärt. Ersteres hängt eng mit dem Messproblem zusammen und würde dieses lösen - einfach und ontologisch geradlinig, im Gegensatz zu allen anderen Interpretationen.

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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.
Jupp_@
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Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 21. Jul 2023 23:18    Titel: Antworten mit Zitat

Eine kurze Frage noch an die Experten hier:

Ist das Phänomen und der mathematische Mechanismus der Dekohärenz eigentlich auch mit der Standard Interpretation oder sogar der Thermischen Interpretation vereinbar? Wenn ich so lese, bekomme ich fast immer den Eindruck, die Dekohärenz würde laut machen Experten nur mit den Vielen Welten in Einklang zu bringen sein
jh8979
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Beitrag jh8979 Verfasst am: 21. Jul 2023 23:33    Titel: Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:

Ist das Phänomen und der mathematische Mechanismus der Dekohärenz eigentlich auch mit der Standard Interpretation oder sogar der Thermischen Interpretation vereinbar? Wenn ich so lese, bekomme ich fast immer den Eindruck, die Dekohärenz würde laut machen Experten nur mit den Vielen Welten in Einklang zu bringen sein

Dekohärenz ist etwas,das in der Mathematik der Quantenmechanik berechnet werden kann und das wir beobachten in der Realität. Jede Interpretation, die dies nicht enthält, wäre falsch.
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 21. Jul 2023 23:42    Titel: Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Richtiger ist wahrscheinlich, dass die klassische Welt aus der Quantenmechanik folgt und somit auch die klassischen physikalischen Eigenschaften.

Davon gehen praktisch alle aus, allerdings liefert die Quantenmechanik bis heute keinen realistischen Mechanismus, aus dem dies vollumfänglich folgt.

Ohne auf die TI einzugehen, die sehr klar den Finger in die Wunde legt und zumindest eine Argumentation in Richtung einer Lösung anbietet. Das folgende sehr einfache Modell zeigt dies explizit.

Gegeben sei ein ruhendes Teilchen, das in zwei identische Teilchen zerfällt, wobei der Zerfall sphärische Symmetrie aufweist. Ohne auf mathematische Details wie Streuphasen einzugehen bedeutet dies:
i. Die beiden Zerfallsprodukte tragen entgegengesetzten Impuls.
ii. Die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen in einem gewissen Raumwinkelelement zu detektieren, und das andere im entgegengesetzten Raumwinkelelement, ist konstant, d.h. unabhängig vom Winkel.
Die mathematische Beschreibung ist vollständig sphärisch symmetrisch, die Realität bzw. Messung zeichnet aber exakt eine Richtung aus. Dafür liefert die Quantenmechanik keine befriedigende realistische Erklärung. Entweder gibt man sich mit Wahrscheinlichkeiten zufrieden (und führt evtl. einen Kollaps ein, der jedoch nichts erklärt, sondern nur ex post postuliert, was man beobachtet), oder man akzeptiert die Realität aller Überlagerungen der unendlichen vielen möglichen Richtungen a la Everett. Die TI nimmt zumindest das Problem ernst.

Für andere, makroskopische Eigenschaften wie Kristallstruktur, Farbe, Brechungsindex, Leitfähigkeit, magnetische Suszeptibilität, spezifische Wärmekapazität u.v.a.m. existieren dagegen vernünftige Modelle.

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Zuletzt bearbeitet von TomS am 22. Jul 2023 09:13, insgesamt einmal bearbeitet
wowtomsweissesauchnicht
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Beitrag wowtomsweissesauchnicht Verfasst am: 21. Jul 2023 23:50    Titel: Antworten mit Zitat

Kommen wir nun zu etwas völlig anderem, was ist Gravitation? Auch nur eine Wellenfunktion?
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18082

Beitrag TomS Verfasst am: 21. Jul 2023 23:51    Titel: Antworten mit Zitat

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Ist das Phänomen und der mathematische Mechanismus der Dekohärenz eigentlich auch mit der Standard Interpretation oder sogar der Thermischen Interpretation vereinbar? Wenn ich so lese, bekomme ich fast immer den Eindruck, die Dekohärenz würde laut machen Experten nur mit den Vielen Welten in Einklang zu bringen sein

Anders herum: die Viele-Welten-Interpretation erhält durch bestimmte Aspekte der Dekohärenz eine tragfähige Basis. Aber auch ohne die Viele-Welten-Interpretation sind diverse Ergebnisse der Dekohärenz gültig und müssen in jeder Interpretation beachtet werden.

Ein wichtiges Beispiel ist das Entstehen klassischer Zustände und Eigenschaften. Nehmen wir an, wir präparieren ein mikroskopisches System in einer Superposition zweier Zustände a,b.



Im Zuge einer Messung resultiert nun immer ein konkreter makroskopischer Zustand eines Messgerätes. Das Messgerät zeigt immer entweder A oder B, nie eine Superposition



Die Dekohärenz sagt uns zwar nicht, welche der beiden Möglichkeiten realistiert wird, jedoch erklärt sie, warum nur entweder A oder B auftritt.

Der Punkt ist ziemlich subtil und wurde erst Ende der 60er / Anfang der 70er wirklich diskutiert und in der Folge wirklich verstanden. Das Problem der orthodoxen Quantenmechanik ist, dass sie sagt, „wir haben a,b und die zugehörigen makroskopischen Messwerte A,B“. Das beschreibt, was wir beobachten, erklärt es jedoch nicht. Bei den mikroskopischen Zuständen sind alle o.g. Superpositionen völlig gleichberechtigt, bei den makroskopischen jedoch nicht. Wir erhalten eben immer A oder B. Warum zeigt das Messgerät nicht stattdessen immer



Die Dekohärenz erklärt dieses Auftreten ganz spezieller, ausgezeichneter Zustände.

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Zuletzt bearbeitet von TomS am 22. Jul 2023 09:25, insgesamt 5-mal bearbeitet
Jupp_@
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Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 22. Jul 2023 07:39    Titel: Antworten mit Zitat

Vielen Dank für die Erklärung!

Dann scheint es so, als sei die Dekohärenz mit den gängigen Interpretationen vollständig im Einklang zu stehen (bei Wikipedia steht nämlich, sie würde nicht mit der Kopenhagener Interpretation funktionieren; deshalb meine Verunsicherung).

Wie ist das in der Vielen Welten Interpretation: Interferieren dann die unterschiedlichen Zweige, also Welten, miteinander? Und bei Kopenhagen: hier kollabieren die restlichen nach dem Dekohärenzprozess?



Weiß hier jemand, wie die TI mit der Dekohärenz umgeht, und warum bei ihr ohne Kollaps keine vielen Welten am Ende einer Messung heraus kommen (ich bin ganz ehrlich: die Konsequenzen der vielen Welten gefallen mir nicht, deshalb finde ich die TI doch sehr attraktiv).
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18082

Beitrag TomS Verfasst am: 22. Jul 2023 09:42    Titel: Antworten mit Zitat

Ich habe den Beitrag oben ergänzt.

Man kann das Messproblem in zwei Teilprobleme zerlegen, wovon die Dekohärenz das erste löst.

1) Warum resultieren werden aus den zunächst mathematisch völlig gleichberechtigten Möglichkeiten der Superposition nur ganz bestimmte ausgezeichnet, die den makroskopischen Messergebnissen entsprechen? (oben A und B)
2) Warum wird in einer konkreten Messung genau eines davon realisiert, und welches?

Zu (2) liefern die Ergebnisse unterschiedliche Aussagen.

Everett sagt, nein, es werden tatsächlich alle realisiert, allerdings ist letztlich der Beobachter selbst Bestandteil von A und B, und die beiden Zweige (inkl. Beobachter) stehen gewissermaßen in keinem Kontakt mehr zueinander; letzteres ist eine Umschreibung einer präzisen mathematischen Konsequenz der Dekohärenz.

Neumaier sagt, uns fehlt ein Mechanismus, der die Realisierung eines einzelnen Messwertes erklärt. Das liefert die Dekohärenz nicht, ihre mathematischen Methoden sind zu grob. Er behauptet, dass diese Selektion letztlich durch die Anfangsbedingungen sowie die effektiv nicht-lineare Dynamik des Untersystems des Messgerätes verstanden werden kann, uns fehlen lediglich die mathematischen Methoden und - konkret je einzelner Messung - die präzise Kenntnis der Anfangsbedingung für das Gesamtsystem (Quantenobjekt, Messgerät, störende und unbeobachtbare Umgebung also Restgas, Reststrahlung …)

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Dann scheint es so, als sei die Dekohärenz mit den gängigen Interpretationen vollständig im Einklang zu stehen (bei Wikipedia steht nämlich, sie würde nicht mit der Kopenhagener Interpretation funktionieren; deshalb meine Verunsicherung).

Die Wikipedia ist eine Quelle mannigfaltiger Verunsicherung.

Die Kopenhagener Interpretation (KI) ist keine geschlossene und in sich konsistente Interpretation, eher ein Sammelsurium verwandter Ansichten. Es ist auch nicht so, dass die Dekohärenz ein Problem mit der KI hätte, sondern umgekehrt hat die KI ein Problem mit der Dekohärenz.

Ein blödes Beispiel. Stell dir vor, im Grundgesetz stünde ein Artikel, dass in bestimmten Zonen zwingend Tempo 30 gilt, jedoch wird nicht erklärt, in welchen genau. Es läuft eher darauf hinaus, dass diese Zonen gerade die sind, bei denen man in Radarkontrollen feststellt, dass sich die meisten Autofahrer an Tempo 30 halten. Nun befassen sich die Verkehrsplaner und Verwaltungsjuristen genauer mit der Situation und kommen zu Ergebnissen wie der Anwendung in Wohngebieten, vor Schulen und Kindergärten usw. Sie erklären das den Hütern des Grundgesetzes, die jedoch weiterhin darauf beharren, dass Tempo-30-Zonen prinzipiell nicht verstanden werden können und es deswegen dieses Artikels bedarf. Wer hat jetzt das Problem?

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Wie ist das in der Vielen Welten Interpretation: Interferieren dann die unterschiedlichen Zweige, also Welten, miteinander?

Ja, allerdings sind die Interferenzterme unfassbar winzig.

Jupp_@ hat Folgendes geschrieben:
Und bei Kopenhagen: hier kollabieren die restlichen nach dem Dekohärenzprozess?

Die KI hat das Problem, dass sie ohne Dekohärenz gedacht wurde. Sie war schon immer nicht wirklich stimmig, ja, man fummelt halt irgendwie „Kollaps nach Dekohärenz“ hinein, das macht es nicht besser.

Es gibt neuere Interpretationen, die tatsächlich ein besseres Bild ergeben, allerdings stellt sich grundsätzlich die Frage, ob ein Kollaps fundamental als Postulat festgelegt werden kann, da er in bestimmten Fällen explizit falsch ist (was die Anhänger der KI nicht verstehen).

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Jupp_@
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Beitrag Jupp_@ Verfasst am: 22. Jul 2023 10:21    Titel: Antworten mit Zitat

@TomS

Danke für deine Erklärung! Aber jetzt nochmal für mich als Laie: liefert die VWI+Dekohärenz praktisch andere Beobachtungen als Kopenhagener + Dekohärenz; bzw ist die Dekohärenz wirklich unverträglich mit der Kopenhagener (wie in Wikipedia)?
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