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Gewicht eines Körpers in Abhängigkeit von der Höhe - Seite 3
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dermarkus
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Anmeldungsdatum: 12.01.2006
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Beitrag dermarkus Verfasst am: 30. März 2006 21:56    Titel: Antworten mit Zitat

Dass der Kosinus gleich dem Verhältnis von Ankathete zu Hypothenuse ist im rechtwinkligen Dreieck, das lernen die Schüler heute ungefähr in der neunten Klasse, also in ihrem neunten Schuljahr, also immer noch ungefähr mit 16 Jahren.

Unter dem Begriff Kosinussatz verstehen die Mathematiker genaugenommen etwas anderes.

(2) Für das ursprüngliche "3/3" schlage ich die folgenden Bezeichnungen vor:
*Ostabweichung nach Galilei
*Galileis Wert für die Ostabweichung mit der Näherung einer flachen Erde
*Galileis Abschätzung der Ortsabweichung, die zu groß geraten ist, weil er vergaß, zu berücksichtigen, dass die Fallbeschleunigung der Erde während des Falls ihre Richtung ändert.
*Coriolisablenkung plus Rechenfehler durch falschen Ansatz

(1) Mit Coriolisablenkung meine ich in der Tat ganz genau dasselbe wie die Ostabweichung. Beides beträgt 2/3 von Galileis Wert. Coriolis hat gezeigt, wie man den Effekt im rotierenden Bezugssystem berechnen kann; vor Coriolis konnte man den Effekt auch schon berechnen, brauchte aber dazu die etwas komplizierteren Überlegungen für eine Rechnung im nichtmitrotierenden Bezugssystem. In welchem Bezugssystem man die Ostabweichung=die Coriolisablenkung berechnet, ist egal (solange man dabei keine Fehler macht).

(3) Pädagogisch sein heißt ja nicht, auf das Handwerkszeug zu verzichten, was beide, der Erklärende und der Lernende, schon zur Verfügung haben. Es ist ja oft sogar viel didaktischer, beim Lernenden das als bekannt vorauszusetzen, was er schon kann, denn sonst geriete die Erklärung unnötig langwierig oder bliebe unnötig vage und unquantitativ.
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 31. März 2006 00:02    Titel: Antworten mit Zitat

> war noch nicht im oder am Michaelisturm <

Google: Benzenberg Hamburg Fallversuche > Sterne ueber Hamburg,
aus diesem Bericht ein paar Zeilen:

„Da Repsold ein 8 zölliges Passageinstrument gemacht hat, welches die Fehler der Zeitbestimmung bis auf ½ Sek. einschränkt, so hat man Hoffnung, endlich einmal die wahre Länge von Hamburg zu erhalten".

Die Zwischenböden des Turms hatten alle in der Mitte Falltüren. Wenn diese alle geöffnet wurden, stand ein durchgehender Schacht von 110 m Höhe zur Verfügung.

„Ich ließ die Kugeln ... fallen, und Karstendik war unten, um Acht zu geben, daß niemand über die Stelle ginge, wo die Kugeln hinfielen. Eine der Kugeln fiel so auf die Bretter, daß diese auseinanderflogen, und Karstendik, der dies sieht, geht hin, um sie wieder zusammenzuschieben. - Der Bediente, welcher mir bey diesen Versuchen immer treulich half, sah aber nicht hinunter, weil er gerade einen Faden an einer Kugel befestigte. Ich selbst konnte bey der Beobachtung nicht hinunter sehen und schneide die folgende Kugel los, welche so dicht an Karstendik vorbey fällt, daß sie ihm den Hut und die Perücke abschlägt und etwas an der backe streift.... Als ich hinunter kam, saß er auf einer Todtenbaare, und konnte sich von seiner Alteration noch nicht wieder erholen. Ein Schluck gebranntes Wasser und der Dialog thaten indeß bald ihre gewohnte gute Wirkung."


> wenn man den korrekten Breitengrad des Versuchsortes kennt und <

Im Diercke fand ich (auch?), daß Freiburg i. S. und Freiberg i. S. merkwürdigerweise ziemlich genau auf dem gleichen Breitenkreis liegen.

> man die Umrechnung von Fuß in Meter und die Umrechnung von mm in Linien herausfinden kann <

Damit steht fest, daß alle Meter- und Millimeterangaben der Tabelle „falsch“ sind.
Man muß also zu den Quellen gehen, dahin, wo noch Füße und Linien im Originalbericht stehen. Der erste Schritt rückwärts zu den Originalen wäre W. Brunner, Dreht sich die Erde?
Teubner, Leipzig u. Berlin 1915, (Bd. 17 der „Mathematischen Bibliothek“).
In Brunner dürften dann ältere Quellen angegeben sein.
Ich weiß aber nicht, ob der Markus an solchen alten Linien und Füßen interessiert ist.
Man gerät dann in die Zeit der alten Maße hinein, in jedem deutschen Land u. U. andere Längenmaße, in Sachsen gar hatten Dresden und Leipzig verschiedene Füße.
Wichtig erscheint mir, daß Reich aus Paris einen Urmeter mit nach Sachsen brachte, der dann auch amtlich eingeführt wurde, als erster in einem deutschen Land.
dermarkus
Administrator


Anmeldungsdatum: 12.01.2006
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Beitrag dermarkus Verfasst am: 31. März 2006 00:33    Titel: Antworten mit Zitat

Opa findet mit seinen Recherchekünsten sehr schöne Dinge, selbst den Breitengrad von Freiburg in Schlesien, den ich weder im Internet noch in meinem (zugegebenermaßen recht neuen) Diercke gefunden habe smile

Und er hat recht, wenn ich höre, dass die Füße zu dieser Zeit je nach Ort unterschiedlich lang waren, dann beginnt meine historische Neugier schläfrig zu werden. Und ich verstehe, welche Fleißarbeit dahintersteckt, die damaligen Messergebnisse sauber in modernen Maßeinheiten darzustellen.

Dann freue ich mich, dass ich heute einfach mit Metern rechnen darf, und dass Leute wie Reich sie für ihre Präzisionsmessungen hier eingeführt haben, und beim Rechnen auf erprobte Formeln und Methoden zurückgreifen darf, wie sie z.B. Coriolis herausgefunden hat smile
Gast






Beitrag Gast Verfasst am: 31. März 2006 01:39    Titel: Antworten mit Zitat

> (1) Ist das so richtig ausgedrückt?

Mit dem Ansatz von Coriolis wird die komplette Ablenkung unmittelbar und korrekt bestimmt. Es ist nicht so, dass der Coriolis-Effekt hier nur einen anderen, eigentlich richtigen Ansatz modifiziert. Der von mir ursprünglich verwendete Zugang zu dem Phänomen entsprach dem was Wagenschein in seinem 'Brunnenstrahl-Experiment' beschreibt, dem waagerechten Wurf. Wie ich später las entsprach das auch Galileis Einwand gegen die Vertreter des Gedankens, der fallende Körper würde zurückbleiben, was einer Westablenkung gleichkäme, weil sich ja die Erde während des Falls weiterdrehe. Diese Auffassung entstammte wahrscheinlich Aristoteles' irrtümlicher Ansicht, ein Körper würde sich nur bewegen weil und solange eine Kraft auf ihn wirke. Es ist aber so, dass er sich unverändert bewegt solange _keine_ Kraft auf ihn wirkt, eine solche ändert hingegen seine Bewegung. Das hat aber erst Newton in dieser Klarheit formuliert.

Zur Frage von Erdradius und Kosinus.

Beim waagerechten Wurf handelt es sich ja um die Überlagerung von zwei Bewegungen, der horizontalen, bewirkt durch die Startgeschwindigkeit, und der vertikalen des freien Falls, so wie bei Wagenschein ausgeführt. Die Wurfweite ergibt sich aus der Fallzeit und der Startgeschwindigkeit als s = v*t. Die Fallzeit bestimmt sich aus der mit g beschleunigten Bewegung längs der Fallstrecke h zu t = Wurzel(2*h/g). Setzt man das für t ein erhält man die Gleichung für die Wurfweite als s = v*Wurzel(2*h/g). Jetzt gilt es nur noch, die Startgeschwindigkeit v zu ermitteln. Wird der Erdboden als ruhend betrachtet, dort wird ja die Abweichung gemessen, dann muss nur noch berechnet werden, um wie viel der Körper in seiner Starthöhe h schneller ist. Das gelingt durch den Vergleich der Bahngeschwindigkeiten am Erdboden und der an der Spitze des Turms. Diese Bahngeschwindigkeit ist das Produkt aus der Winkelgeschwindigkeit der Erde und (am Äquator) dem Abstand vom Zentrum, dem Radius r. Die Geschwindigkeit oben ist w*r_oben, die unten ist w*r_unten, der Unterschied ist w*r_oben - w*r_unten oder w*(r_oben - r_unten), das ist aber w*h. Anders gesagt, auch auf dem Jupiter würde das gelten, trotz seines riesigen Radius, nur ist g dort etwa zweieinhalb mal so groß wie auf der Erde und man kann mangels fester Oberfläche wohl keinen Turm bauen.

Jetzt ist die Bahngeschwindigkeit aber abhängig von der geographischen Breite, sie ist maximal am Äquator und null am Pol, deswegen gibt es ja auch dort keine 'Ostabweichung'. Der Umfang eines Breitenkreises in Relation zum Äquatorumfang ist hier das Maß der Dinge, denn die Winkelgeschwindigkeit ist überall gleich, selbst am Pol. Dieses Verhältnis von örtlicher Bahngeschwindigkeit zu der am Äquator wird durch die Kosinus-Funktion beschrieben, bei null Grad Breite, am Äquator, ist der Kosinus eins (cos(0°) = 1) und am Pol ist er null (cos(90°) = 0). Den gleichen Zusammenhang könnte man auch über den Abstand des Ortes auf dem Breitenkreis von der Erdachse beschreiben, auch der ist Erdradius mal cos(b).

Damit ergibt sich dann die komplette Gleichung als s = cos(b)*w*h*Wurzel(2*h/g). Nur ist die eben aus den schon genannten Gründen unzureichend, die Schwerkraft 'zieht' eben nicht immer in die gleiche Richtung sondern zeigt zum Zentrum der Erde.

Außerdem 'zieht' sie ohnehin nicht, sie 'schiebt' ;-)
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 31. März 2006 02:48    Titel: Antworten mit Zitat

> das lernen die Schüler heute ungefähr in der neunten Klasse >
Im achtjährigen Gymnasium, stimmt. Im neunjährigen Gymnasium – gibt es das überhaupt noch? – in Klasse 10, Lehrpläne von Baden-W. - Kosinus läuft tatsächlich unter der Überschrift Kosinusfunktion in Opas altem Trigonometriebuch.

> (2) Für das ursprüngliche "3/3" schlage ich die folgenden Bezeichnungen vor:
*Ostabweichung nach Galilei <
Hat es nicht etwas mit dem Beharrungsgesetz von Newton zu tun?
“Lex I:
corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi
uniformiter in directum,
nisi quatenus illud
a viribus impressis cogitur
statum suum mutare.”
Ich schlage vor, in erster Linie vom Beharrungsvermögen zu sprechen.
Ohne dieses käme ja in unserem Falle zunächst einmal nichts zustande.
Euler schreibt:
„Nachdem ich Ew. H. die notwendige Wahrheit des Grundsatzes erwiesen habe, daß alle Körper sich durch sich selbst, in demselben Zustande der Ruhe sowohl als der Bewegung erhalten ...“
- Aber, so notwendig, so denknotwendig und wahr er es sich zurechtgeschrieben oder zurechtgelegt hat, schreibt er nicht weniger als noch zwanzig Seiten dazu, merkt Wagenschein an, und meint dazu: „Unsere heutigen deutschen Kinder sind gewiß nicht klüger, als man von einer deutschen Prinzessin im Jahre 1760 annehmen durfte.
Einstein formuliert 1917 so: „Ein von anderen Körpern hinreichend weit entfernter Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung“.
Beharrungsvermögen /-gesetz oder Verharrungsvermögen /-gesetz wäre sprachlich also besser als Trägheitsvermögen oder Trägheitsgesetz.
Wie sagen die Franzosen dazu, welchen Namen hat es bei den Engländern oder in den anderen europäischen Sprachen.
Wann kommt das Beharrungsgesetz dran im Gymnasium, wann das als nächstes notwendige Fallgesetz? Also die Sachen, mit denen wir hier in Formeln herumjonglieren.

> (3) Pädagogisch sein heißt ja nicht, auf das Handwerkszeug zu verzichten, was beide, der Erklärende und der Lernende, schon zur Verfügung haben. Es ist ja oft sogar viel didaktischer, beim Lernenden das als bekannt vorauszusetzen, was er schon kann, denn sonst geriete die Erklärung unnötig langwierig oder bliebe unnötig vage und unquantitativ. <

Damit bin ich voll einverstanden. Allerdings kann man nur das als bekannt voraussetzen, was auch wirklich bekannt ist. Es wäre also didaktisch falsch, die Coriolisablenkung als erstes einzuführen, ohne daß man vorher Beharrungsgesetz und Fallgesetz verstanden hat.

Vielen Dank für das schöne Bild von Coriolis, aber gehört seine Abweichungsformel noch ins Gymnasium? Vielleicht in der Oberstufe nach dem Beharrungsgesetz, bei Lex I „a viribus impressis“? Ich habe den Coriolis in den Lehrplänen noch nicht gefunden, vielleicht haben Gast und Markus da mehr Übersicht.
dermarkus
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Beitrag dermarkus Verfasst am: 31. März 2006 09:00    Titel: Antworten mit Zitat

Newtons Gesetz von der Trägheit, also von der Beharrung ist in der Tat die Grundlage für alle diese Berechnungen.

Das heißt aber, auch, dass es nicht als Unterscheidungskriterium zwischen den verschiedenen Berechnungen dienen kann, da sowohl die Rechnung von Galilei als auch die Rechnung von Coriolis darauf basieren.

Newtons Trägheitsgesetz lernen die Schüler heute schon in Klasse 7 oder 8, beschleunigte Bewegungen wie den freien Fall in allen seinen Varianten bis hin zum schiefen Wurf in Klasse 11, und die Corioliskraft lernen sie erst im Studium z.B. der Physik.

Das unterstützt das Bild, dass die Corioliskraft eine so interessante und knifflige Angelegenheit ist, dass man sie nicht als eines der einfachen klaren Lehrbeispiele verwendet, um den Schülern die Bewegungsgesetze in der Schule vertraut zu machen. Dafür dürfen sich die Schüler bei Kreisbewegungen mit der Zentrifugalkraft beschäftigen.
Opa



Anmeldungsdatum: 19.03.2006
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Beitrag Opa Verfasst am: 31. März 2006 16:55    Titel: Antworten mit Zitat

In Klasse 8 handelt es sich offenbar nur um erste Erscheinungsformen der „Trägheit“
In Klasse 11 erst steht dann das „Trägheitsgesetz“ in seiner reinen Form auf dem Lehrplan.
Im Studium dann Coriolis.
Das gibt also gewissermaßen die zeitliche Dimension der umfassenderen pädagogischen Dimension.
Mit 14 Jahren in einer Art von vorwegnehmendem Lernen eine erste Anbahnung des Begriffes „Trägheit“; ein unglückliches Wort, liegt es doch im Sinne zu nahe bei „faul“.

Daher nach Newton perseverare = beharren, nach Euler „erhalten“, Einstein „verharrt“.
Trägheit bezeichnet also nur die Ruhelage eines Körpers trefflich, während Beharren auch das „movendi“ mitumfassen kann. Trägheit ist sprachlich schlecht, es erzeugt falsche Vorstellungen, es ist falsch. Ganz ähnlich falsch ist im ersten Schuljahr schon die erzeugte Vorstellung, ein Auto könne minusfahren oder ein Vöglein könne plusfliegen. Deshalb waren Minus und Plus in der Volksschule zurecht verboten. Ein Auto fährt halt weg und nicht minus.
Trägheit ist also unbedingt durch Beharren zu ersetzen in den Lehrplänen.
Mit 17 Jahren dann das Beharrungsgesetz und
mit 20 Jahren vielleicht dann Coriolisabweichung.
Opa hat demnach hier bei Euch in wenigen Tagen gelernt, was sonst sieben Jahre dauern mag,
freilich hat er noch nicht alles verstanden.

Aus Coriolan von William Shakespeare

„Cajus Marcius tritt auf.
Heil, edler Marcius!
MARCIUS
Dank euch! Was gibt es hier, rebellsche Schurken,
Die ihr das Jucken eurer Einsicht kratzt,
Bis ihr zu Aussatz werdet?
ERSTER BÜRGER
Von Euch bekommen wir doch immer gute Worte.
.........................
Mit Freud ernennt dich, Coriolan, zum Konsul
Der sämtliche Senat.“

Beschreibt der folgende Text aus dem alten Lexikon eine Erscheinungsform der Ostabweichung (= Coriolis?)?
„Auf demselben Prinzip beruht es, daß auf einer in der Richtung des Meridians liegenden Eisenbahn eine von S. nach N. laufende Lokomotive mit dem Spurkranz ihres rechten Rades die rechts (östlich) liegende Schiene nach O. zu verschieben sucht, während eine von N. nach S. laufende Lokomotive umgekehrt die westliche Schiene weiter nach W. zu schieben sucht. Wird ein Geleise nur in der einen Richtung befahren, so muß die Entfernung beider Schienen allmählich zunehmen, wie man beispielsweise an der Hamburg-Harburger Eisenbahn bemerkt hat, wo diese Zunahme 8 cm in einem Vierteljahr beträgt.“

Edler Gast, was soll Opa unter „w“ oder omega oder Winkelgeschwindigkeit verstehen?
Kann man diesen formalistischen Buchstaben sowie das Wort Winkelgeschwindigkeit nicht mit wenigen, klar verständlichen Sätzen erläutern, bis hin zu einem halbwegs für mich noch verstehbaren Glied einer Gleichung? Sicher wurde das hier schon mal versucht, aber ich habe den Sprung zum abstrakten Formelbuchstaben noch nicht ganz kapiert. Was verbirgt sich genau dahinter?
as_string
Moderator


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Beitrag as_string Verfasst am: 31. März 2006 17:10    Titel: Antworten mit Zitat

Opa hat Folgendes geschrieben:

Kann man diesen formalistischen Buchstaben sowie das Wort Winkelgeschwindigkeit nicht mit wenigen, klar verständlichen Sätzen erläutern, bis hin zu einem halbwegs für mich noch verstehbaren Glied einer Gleichung? Sicher wurde das hier schon mal versucht, aber ich habe den Sprung zum abstrakten Formelbuchstaben noch nicht ganz kapiert. Was verbirgt sich genau dahinter?


Winkelgeschwindigkeit ist eine Definition, die bei Kreisbewegungen im Allgemeinen verwendet wird. Ich denke, Du kennst das Bogenmaß. Im Bogenmaß hat ein voller Kreis nicht 360° sondern . Man kann also alle Winkel nicht nur in Grad angeben sondern genau so auch im Bogenmaß. Die Winkelgeschwindigkeit gibt bei einem rotierenden System jetzt an, um wie viel der Winkel sich im Bogenmaß gemessen ändert pro Zeiteinheit. Im Vergleich dazu gibt die Normale Geschwindigkeit ja die Änderung des Ortes pro Zeiteinheit an. Bei der Winkelgeschwindigkeit also entsprechend die Änderung des Winkels.
Wenn ein System in einer Sekunde genau eine Umdrehung vollbringt, dann hat sich der Winkel im Bogenmaß also um geändert und das in einer Sekunde. Also wäre die Winkelgeschwindigkeit:

Die Frequenz aber genau 1 Hz = 1/s. Die Winkelgeschwindigkeit Omega ist also immer um den Faktor größer, als die Frequenz.

Gruß
Marco
dermarkus
Administrator


Anmeldungsdatum: 12.01.2006
Beiträge: 14788

Beitrag dermarkus Verfasst am: 31. März 2006 17:56    Titel: Antworten mit Zitat

Stimmt, die Beobachtung mit den Eisenbahngleisen ist eine Auswirkung der Corioliskraft.

Die Trägheit im Deutschen (wie "inertia" im Englischen, "inercie" im Französischen, "inerzia" im Italienischen, "inercia" im Spanischen, "inércia" im Portugiesischen, "Traagheit" im Niederländischen, "Tröghet" im Schwedischen) ist der Fachbegriff in der Physik, unter dem man die oben beschriebene Newtonsche Erkenntnis heute kennt.

Für die Beschreibung von Ereignissen in mit konstanter Geschwindigkeit geradeaus bewegten Bezugssystemen (sogenannten Inertialsystemen), also zum Beispiel in einem fahrenden Auto, ist die Vorstellung, dass der Fahrer in diesem System ruht, für mein Gefühl sogar die schönste anschauliche Erklärung dessen, dass er trotz der Bewegung keine (beschleunigende) Kraft verspürt.

Formeln, die Marcos Erklärung der Winkelgeschwindigkeit ergänzen, sind:



für eine Drehbewegung mit Drehfrequenz f und der Periode T (T ist also die Zeit, nach der gerade eine volle Umdrehung beendet ist)

und



für die Bahngeschwindigkeit v eines Körpers, der sich im Abstand R von der Drehachse mit der Winkelgeschwindigkeit omega um diese Drehachse herumbewegt.
Gast






Beitrag Gast Verfasst am: 31. März 2006 17:58    Titel: Antworten mit Zitat

> mit wenigen, klar verständlichen Sätzen erläutern

Ich will es gern versuchen.

Was ist ein Winkel? Die gebräuchliche Definition ist, ein Winkel ist das Verhältnis von Kreisbogenlänge zu Radius. Stellt man sich einen Kreis mit dem Radius r (egal in welcher Längeneinheit) vor, dann ist sein Umfang Durchmesser mal pi oder 2*r*pi. Teilt man nun diesen Umfang durch den Radius bekommt man 2pi. Das ist dann der Winkel für einen Umlauf um den Kreis, und dieser Winkel hat keine Einheit (bzw. die Einheit 1), denn er ist ja das Verhältnis zweier Längen (Bogenlänge und Radiuslänge), die Einheit der Länge kürzt sich also weg. Dieser Vollwinkel wird gern auch mit 360° bezeichnet, wobei das Winkelgrad so etwas ist wie das Prozent, was ja von hundert heißt, nur hier eben von 360, wieder ohne Einheit.

Jetzt zur Geschwindigkeit. Sie ist ein Konstrukt aus Länge (oder Weg, Strecke) und Zeit, und zwar das Verhältnis von beiden, Länge geteilt durch Zeit, in Einheiten Meter pro Sekunde, m/s, oder auch Kilometer pro Stunde, Meilen pro Tag, was immer man möchte.

Bringt man diese beiden Größen zusammen, dann kommt man zur Winkelgeschwindigkeit. Um im genannten Beispiel zu bleiben, der Kreis mit dem Umfang 2*pi*r hat den Vollwinkel 2pi. Wird dieser Kreis in der Zeit T einmal umlaufen, dann nennt man das die Winkelgeschwindigkeit, also 2pi/T, mit der Einheit eins pro Sekunde oder 1/s.

Der Sekundenzeiger einer Uhr hat die Winkelgeschwindigkeit von Vollwinkel geteilt durch eine Minute, die Erde hat die Winkelgeschwindigkeit 2pi (Umfang durch Radius) pro Tag. Wie schon erwähnt wurde gibt es da zwei verschiedene Tageslängen, einmal die übliche bezogen auf die Sonne und die andere bezogen auf einen weit entfernten Ort, z.B. einen Fixstern.

Aus Winkelgeschwindigkeit und Radius lässt sich jetzt auch wieder die Umfangsgeschwindigkeit oder Bahngeschwindigkeit bestimmen, und zwar als Produkt von Winkelgeschwindigkeit und Radius. Diesen Zusammenhang habe ich in der Darstellung der Galilei-Version der Ostabweichung benutzt um die relative Geschwindigkeit des Körpers oben auf dem Turm zum Erdboden zu berechnen. Das ist dann die Geschwindigkeit mit der in Wagenscheins Brunnenstrahl-Experiment das Wasser aus dem Rohr strömt und in bestimmter Entfernung auftrifft.
Opa



Anmeldungsdatum: 19.03.2006
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Beitrag Opa Verfasst am: 01. Apr 2006 09:01    Titel: Antworten mit Zitat

Opa bedankt sich ganz herzlich bei Euch! Das hier ist ja ein phantastisches „board“, eine „elektrische Schultafel“. Kaum hatte ich gefragt, schon sind sachlich lehrreiche Antworten da, diesmal gleich drei Stück.

> Du kennst das Bogenmaß. Im Bogenmaß hat ein voller Kreis nicht 360° sondern 2 Pi. Man kann also alle Winkel nicht nur in Grad angeben sondern genau so auch im Bogenmaß. <

Nein, ich kannte das Bogenmaß nicht, obwohl ich damit in einer Excelformel gerechnet hatte.
Dank Eurer Hilfe konnte ich es mir jetzt einigermaßen klarmachen.
Es ist ein Fehler, der anderen vielleicht auch passiert. Daher berichte ich davon.
Ich klebte an der Kosinusfunktion fest, denn mein Weg zum Ziel muß, wenn ich ihn besser verstehen will, so anschaulich wie nur möglich bleiben. Ihr habt mir recht gut den Weg von einem abstrakten Begriff in das Reich der Anschaulichkeit zurück gewiesen. Ich gehe in entgegengesetzer Richtung vor, vom Umfangskreis der Erde aus, den ich mir zeichne, zum Durchmesser am Äquator, den ich einzeichne, zum Radius der Erde, und dann zum Breitenkreis bei 44,5 Grad. Den kann ich aber erst finden in seinem Umfang, wenn ich seinen Radius mit dem Kosinus bestimmt habe.
Also, was Ihr ja alles mit einem Blick überschaut, das muß ich mir erst mühsam vorstellen, um weiterzukommen.
Kurz, mein Versuch, den Kosinus auf den Wert 44,5 Grad anzuwenden, scheiterte kläglich, weil es ja 44,5 Grad sind und nicht einfach eine Zahl 44,5.
Jetzt aber habe ich diese Denkschwierigkeit überwinden können und setze in Excel in Spalte A den Wert 44,5 sowie in die nächste Zelle der Spalte B daneben =COS(A...*2PI()/360).
Diesen Wert aus B nehme ich mal mit der Hypotenuse (dem Erdradius) zu 6378 km.
Das Ergebnis 4549,111365 km ist dann der Radius des kleineren Breitenkreises durch Bologna.
Dessen Umfang erhalte ich durch Malnehmen mit 2 Pi = 28582,9096 Kilometer.
Den Umfang verteile ich an die 86400 Sekunden eines Erdtages, jede Sekunde bekommt davon 0,330820714 Kilometer. Malgenommen mit 1000 gibt das 330,820714 Meter pro Sekunde. Somit fährt man auf diesem Breitenkreis fast mit Schallgeschwindigkeit von dannen, um die Erdachse herum.
Ich glaube, die Rechnung ist bis dahin richtig, hätte aber zur Sicherheit gerne eine kleine Bestätigung.


„Inertia“ hab ich nachgeschlagen im Lateinwörterbuch: Ungeschicklichkeit, Untätigkeit, Trägheit. Es ist wohl eine Hauptwortbildung zu iners = 1. ungeschickt, einfältig; 2. a) untätig; b) müßig; c) feige; schüchtern, scheu; d) fade; 3) erschlaffend.
Iners kommt von ars, Geschicklichkeit, Handwerk, Kunst, Wissenschaft, System, Theorie, Dichtkunst usw. usw. Eigenschaft, Verfahren, Kunstgriffe, erkünsteltes Wesen.
Unsere Wörter Art, artig sind wohl ganz enge Verwandte von ars.

Kepler, der das Beharrungsgesetz noch nicht kennt, schreibt:

„so khönd es auch für sich selbst nit von dannen kommen, ebendarum die weil es todt ist oder träg vnd vnartig“. ... „Zum stilstehen oder pleiben ... ist genug, das es vnartig sey zu einiger bewegnvs...“

Vielen Dank für die Angaben über den Fachbegriff in anderen Sprachen! Ich ‚pleibe’ bei Einstein und bei Newton, bei Beharrung, denn das Ding ist ja nicht vnartig (zur Bewegung), sondern auch artig, nicht iners, sondern perseverans, beharrend. Der Fachbegriff der Physik ist sprachlich schief, man sollte ihn verbessern, nach den Vorbildern Newton oder Einstein, die treffender formulierten.
Gewiß wäre die Ausbürgerung von inertia und die Einbügerung von vielleicht perseverance ein schwieriger und jahrzehntelanger Vorgang. Mag sein, die Bedeutung von perseverance ist auch noch religiös besetzt. So wird’s vorerst wohl noch bei inertia oder Trägheit bleiben.


Zuletzt bearbeitet von Opa am 02. Apr 2006 01:58, insgesamt einmal bearbeitet
dermarkus
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Anmeldungsdatum: 12.01.2006
Beiträge: 14788

Beitrag dermarkus Verfasst am: 01. Apr 2006 10:29    Titel: Antworten mit Zitat

Opa hat Folgendes geschrieben:
Also, was Ihr ja alles mit einem Blick überschaut, das muß ich mir erst mühsam vorstellen, um weiterzukommen.

Naja, da muss ich bescheiden hinzufügen:
* Wir haben auch geübt, bis wir das konnten.
* Vieles stellen wir uns genauso erst mühsam vor, bevor wir die Gedanken und die Formeln so klar geordnet haben, dass wir das so sagen können, als ob wir das mit einem Blick überschauten.
(Um herauszufinden, wie ein Winkel in einer Formel berücksichtigt werden muss, also z.B. mit cos, sin oder tan, mache ich mir selbst meist eine Skizze.)

Zitat:

Ich glaube, die Rechnung ist bis dahin richtig, hätte aber zur Sicherheit gerne eine kleine Bestätigung.

Ja, die Rechnung stimmt bis dahin smile
Ein Tipp aus dem Nähkästchen der Physiker für das Rechnen (der hilft, vieles mit einem Blick zu überschauen) ist die Vorgehensweise: Erst die Formeln, dann die Zahlen. Dann sieht das ganze so aus:

Mit der Winkelgeschwindigkeit omega der Erde, der Entfernung R von der Erdachse, der Dauer einer Erdumdrehung T, der Entfernung vom Erdmittelpunkt r und dem Breitengrad phi
ist die Bahngeschwindigkeit v:

Gast






Beitrag Gast Verfasst am: 01. Apr 2006 13:06    Titel: Antworten mit Zitat

> Der Fachbegriff [inertia] der Physik ist sprachlich schief

Aristoteles ist nicht 'tot' zu kriegen. Die Begriffe zur Beschreibung der 'unbelebten' Natur werden 'natürlich' aus dem sozialen Kontext gewonnen, woher auch sonst, dort schließlich ist die Sprache entstanden und begründet. Das gilt besonders wenn Bewegung im Spiel ist, nicht so sehr wenn es um statische Eigenschaften geht wie Masse oder Dichte.

Auch 'Beharrung' oder 'perseverance' kommen nicht weg von der Idee des impetus, einer der Sache innewohnenden Bestrebung. Da strebt aber nichts im menschlich aktiven Sinn, es ist lediglich ein Problem unseres Verstehens, was eine solche projektive Beschreibung auslöst.

Die Trägheit könnte man so interpretieren, dass der Körper die Masse 'trägt', die zu seiner Existenz gehört. Der komplette Begriff, Massenträgheit, lockert dann auch die Verbindung zu assoziierten menschlichen Eigenschaften in ausreichendem Maße. Und auch sonst sind wir ja an die Verwendung von Begriffen im übertragenen Sinne gewöhnt, deren konkrete Bedeutung dann von dem Kontext bestimmt wird, in dem sie benutzt werden.

> Somit fährt man auf diesem Breitenkreis fast mit Schallgeschwindigkeit von dannen,
> um die Erde herum.

Das ist ein gutes Beispiel für eine solche unbewusste Kontext-Transformation. Wir bewegen uns hier nicht um die Erde herum sondern auf ihr um ihre Drehachse herum (eine Achse steht, eine Welle dreht..). Die Schallgeschwindigkeit ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schalls bezogen auf das (relativ zum) Medium der Ausbreitung, hier ist die Luft gemeint, denn in Wasser wäre die Schallgeschwindigkeit mehr als vier mal so groß. Die Luft bewegt sich aber mit uns. Trotzdem bleibt es verständlich, was eigentlich gemeint war. Die Sonne dreht sich eben um die Erde...

Hier ist noch eine Skizze zum Thema Erdradius (R), geog. Breite (b), Achsabstand (r) und Kosinus.



cos.gif
 Beschreibung:
 Dateigröße:  4.46 KB
 Angeschaut:  19163 mal

cos.gif


dermarkus
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Anmeldungsdatum: 12.01.2006
Beiträge: 14788

Beitrag dermarkus Verfasst am: 01. Apr 2006 13:12    Titel: Antworten mit Zitat

Ob Gast vielleicht am besten noch in seiner schönen Skizze die Bezeichnungen r und R vertauschen mag ? Dann passt es zu den Bezeichnungen, wie wir sie oben gerade verwendet haben smile und verwirrt nicht unnötig.
Gast






Beitrag Gast Verfasst am: 01. Apr 2006 23:57    Titel: Antworten mit Zitat

Das war die Macht der Gewohnheit, großer Radius, großes R... Hier ist die kompatible Version:


cosi.gif
 Beschreibung:
 Dateigröße:  4.42 KB
 Angeschaut:  19147 mal

cosi.gif


Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 02. Apr 2006 01:54    Titel: Antworten mit Zitat

> um die Erde herum <
verbessere ich zu „um die Erdachse herum“.

Die Erklärung zu Trägheit muß ich überdenken. Wagenschein hat in „Die pädagogische Dimension der Physik“ beim Beharrungsgesetz einige Zitate, von Descartes auch eines. Ich werde hin und wieder aus diesem Aufsatz, wie bisher schon, zitieren. Am liebsten würde ich ihn ganz abschreiben, aber er ist zu lang. Gast wird vielleicht staunen, wer alles schon von der Idee des Impetus weggekommen war. Fallgesetz am Brunnenstrahl ist eine kleine schöne Arbeit. W. hat außerdem einen längeren Aufsatz zu Galileis Versuchen.

> Erst die Formeln, dann die Zahlen <
Das mag ja bei ausgewachsenen Physikern üblich sein, indes liefe die generelle und konsequente Praktizierung eines solchen Ansatzes in der Schule auf einen mittelalterlichen Paukunterricht hinaus, auf das Auswendiglernen von unverstehbaren Formeln und das Nachplappern derselben und dann auf das Nachplappern derselben mit Zahlen. Da möchte ich doch schärfsten Protest anmelden. Selbst in dem Alter, in dem die Fähigkeit zum abstrakteren Denken sich zu entfalten beginnt, kommt es beim Buchstabenrechnen, bei der Algebra, zunächst einmal zu einem Kraut- und Rübenrechnen bei den meisten.
Hier beim Kosinus, möchte ich vorschlagen: Zuerst eine Zeichnung, dann ein Durchdenken der Begriffe wie Ankathete, Winkel, Bogen, Hypotenuse, vorweg eine einleuchtende Fragestellung und gleichzeitig die Erörterung des Gradnetzes, insgesamt also das, was man Anschauung nennt. Dann die Zahlen, die vergeblichen Versuche, mit den Zahlen und den bis dahin bekannten Formeln eine Lösung zu finden. Genaueres wissen sicher erfahrene Gymnasiallehrer. Erst muß der Bedarf für die Formel geweckt werden, ehe sie gegeben werden kann, dann mit Zahlen vielfältig überprüft und angewendet werden, ihre Leistungsfähigkeit ausprobiert und anerkannt werden. Das alles dauert seine Zeit, bis endlich die Formel, der neue Begriff, nach allen Seiten hin gemolken wurde, bis die Formel auch wirklich anerkannt wurde und sitzt. Sie steht also am Ende eines langen Weges und nicht am Anfang. Damit wollte ich den wohlgemeinten Tip aus dem Nähkästchen der Physiker ein wenig zurück ins Nähkästchen beförden, insofern als er auf Kinder bezogen gedacht werden könnte. Denn mir und wohl den meisten Leuten geht es so, daß sie mit den Formeln, den alten in der Schule gelernten, zunächst nichts anfangen können, weil sie schlicht vergessen und verdrängt wurden. Wenn ich mich nun bemühe, sie wieder neu zu lernen, im hohen Alter, und dank Eurer umfangreichen Hilfe, dann möchte ich auch möglichst genau wissen, was hinter den Buchstaben und Formeln steckt. Also bitte, langsam voran.
Die Zeichen wie = ; x (mal); Doppelpunkt und Punkt für Teilen und Malnehmen; die gibt es erst ab ca. 1500; + und – ab 1480. Und doch gab es lange vorher schon beispielsweise die Pyramiden.
Diese abgekürzten Zeichen sind noch nicht so alt, daß man sie als selbstverständlich betrachten kann. Für Kinder sind sie schwierige Brocken. Und im Zusammenhang mit den Dingen, die man alle damit anstellen kann, sobald Buchstaben und Sachen wie cos dazukommen, da werden sie und die Dinge zugleich immer schwieriger.

Die Zeichnung mit dem Wechselwinkel fand ich elegant. Mit v und omega enthält sie aber schon zuviel, wenn zunächst erst einmal der Kosinus dargestellt werden soll.

Opa macht auch eine Zeichnung.
Sie will auf das Bogenmaß hinaus, bezieht deshalb den Bogen vom Äquator 0° bis Bologna 44,5° mit ein ins Gedankengebäude, was bei der eleganten Wechselwinkellösung nicht mehr klar erscheint, da der Bogen nicht benötigt wurde, eigentlich gar nicht mehr da ist. Ihr werdet mich korrigieren? Falls nicht, dann wäre die elegante Wechselwinkelsache eine kleine Stufe höher in der Abstraktion und sollte unbedingt nicht fehlen ein paar Tage später im Unterricht.



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dermarkus
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Beitrag dermarkus Verfasst am: 02. Apr 2006 10:48    Titel: Antworten mit Zitat

Opa weist richtig darauf hin, dass es beim Lernen heißt:

Erst das Verstehen,
dann die Formeln.

(Oft bedeutet das in der Tat: Erst das Konkrete, dann das Abstrakte)


Und beim konkreten Rechnen heißt es, etwas ausführlicher formuliert:

Erst das Verstehen,
dann die Formelbezeichnungen klären,
dann die Formeln,
dann die Zahlen,
dann das sinnvoll gerundete Ergebnis.

Formeln sind für den Physiker die herausdestillierte Quintessenz der Beschreibung der Natur. Eine Formel, zusammen mit dem Beschreibungsmodell, das zu ihr führt, ist also auf den Punkt gebrachtes Verständnis, das es ermöglicht, den Ausgang eines Experimentes quantitativ zu beschreiben und vorherzusagen.

Und von diesem auf den Punkt gebrachten Verstehen wollte ich Opa etwas abgeben, als ich sah, dass er die Rechnung in den Einzelschritten mit Zahlen schon komplett verstanden hatte, aber noch staunte, dass wir das auf einen Blick überblicken zu können scheinen.
Gast






Beitrag Gast Verfasst am: 02. Apr 2006 14:54    Titel: Antworten mit Zitat

> Mit v und omega enthält sie aber schon zuviel..

Das kann man so sehen. Mein Anliegen war, Galileis Ansatz zu illustrieren, und da geht es letzlich um die Geschwindigkeit bei unterschiedlichem Radius und dessen Zusammenhang zur geographischen Breite.

> .. da der Bogen nicht benötigt wurde ..

Der wird benötigt denn ohne ihn ist der Winkel nicht zu verstehen. Der Winkel b ist das Verhältnis von Bogenlänge zu Radiuslänge. In meinem Beispiel war das 1/8 des Umfangs, also 1/8 * 2pi * Erdradius, und das geteilt durch den Erdradius ergibt pi/4 oder 45°. Für die Bahngeschwindigkeit ist der Umfang des Breitenkreises das Maß, das hatte ich schon beschrieben.

> Erst die Formeln, dann die Zahlen

Ich ziehe die Variante 'Erst die Gleichung, dann die Werte' vor, denn in der beschreibenden Gleichung steckt der im Ansatz verwendete physikalische Zusammenhang und dokumentiert damit das Verständnis der Problemstellung und den eingeschlagenen Weg zur Lösung in konzentrierter Form. Formeln sind dann die merkfähigen Kondensate von Gleichungen, erzeugt durch möglichste Vereinfachung der beschreibenden Gleichung für den gegebenen Fall. Diese Vereinfachung entgeht einem aber wenn man vorschnell spezielle Werte der konkreten Aufgabe einsetzt. Ohne Taschenrechner würde man kaum jemals auf diese Idee kommen sondern immer erst die Gleichung zusammenfassen und vereinfachen. Ein gutes Beispiel dafür wurde gerade im thread zum Thema Maxwell-Boltzmann-Verteilung vorgeführt.

> Und doch gab es lange vorher schon beispielsweise die Pyramiden.

Vor der Einführung der Symbol-Konventionen wurden solche Zusammenhänge in Worten beschrieben, was immer noch in Form der sogenannten Textaufgabe (engl. word problem) fort besteht. Die erwähnten Pyramiden erinnern mich an eine solche, die Herodot (von Halikarnassos, 484 - 425 BCE) gestellt hat, um das Geheimnis der Form der Großen Pyramide weiter zu geben, eine andere ist die Hermes zugeschriebene Formulierung 'Was im Großen ist, ist auch im Kleinen'. In beiden Fällen geht es um geometrische Relationen, wenigstens kann man es so interpretieren. Für Plato symbolisierte gerade diese spezielle Relation unsere Verbindung zum Kosmos.

Beide Texte lassen sich als symbolische Gleichung darstellen und leicht lösen, und beide haben interessanterweise das gleiche Ergebnis. In Worte gefasst hat das die Zeit überdauert, hätten beide in speziellen Symbolen geschrieben wäre das möglicherweise heute unverständlich.
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 02. Apr 2006 16:23    Titel: Antworten mit Zitat

Edler Gast,

Ich möchte Dir herzlich danken.

Dein Pyramidengeheimnis interessiert mich sehr. Wie können wir in Verbindung treten?
Ich bin sehr gespannt,
und ich wünsche noch einen schönen Sonntag

Herzliche Grüße
Opa
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 04. Apr 2006 11:24    Titel: Antipoden Antworten mit Zitat

>> In meinem Beispiel war das 1/8 des Umfangs, also 1/8 * 2pi * Erdradius, und das geteilt durch den Erdradius ergibt pi/4 oder 45° <<
Gast will dem armen, in der konkreten Anschauung verhafteten Opa erneut den Erdradius und damit die ganze Erde verschwinden lassen. Ich weiß inzwischen, daß dieser Schritt irgendwann einmal am Gymnasium getan werden muß, um in der Abstraktion und im Formeljonglieren weiterkommen zu können. Ich klammere mich also noch an die Erde, die ist doch so schön rund, wie bei meiner letzten Kosinuszeichnung mit den ehrwürdigen griechischen Wörtern Ankathete und Hypotenuse.
Gestern beim Zahnarzt, als der kräftig bohrte, da dachte ich, wie wäre es, wenn wir in Bologna, bei 44,5 Grad, in den Asinelliturm hineingingen mit Bohrgeschirr, damit zum Erdmittelpunkt und in gerader Linie weiter durch den Globus hindurchbohrten, und wo kämen wir dann hinaus? Zu Hause hat Opa dann im Atlas nachgeschlagen. Das war schon schwierig, denn man muß sich ja einen richtig schönen runden Globus – hätt’ ich doch nur einen – vorstellen, der dann – platsch – auf einem nur zweidimensionalen Blatt Papier abgebildet wird, samt seinen Breitengraden und Längengraden östlich und westlich von Greenwich. Opa tauchte – erneut platsch – im Wasser auf, am anderen Ende der Erde. Fast hätte er das nicht geschafft, weil Diercke an dieser Stelle Nebenkarten mit Temperaturen und Niederschlägen abgedruckt hatte, aber dann, auf einer anderen Karte, gelang es doch noch, und, nach einigen Kilimetern Schwimmen, da erreichte er, Ihr werdet es kaum glauben, eine Insel mit Namen Antipodeninsel.
Die Regierung von Neuseeland hatte allerdings ein Schild aufgestellt: Betreten verboten.
Da war gar nichts zu machen, also zurück auf die nördliche Halbkugel, zurück nach Bologna.
Wie wäre es nun, einmal den Kreis von Gast zu nehmen, also Pi/4 mit 45 Grad, und nun waagerecht einen Schacht anzulegen, der dann links auf dem gleichen Breitenkreis herauskommt. Das müßte dann, statt eines Winkels zu 45 Grad einen solchen zu 45 + 90 = 135 Grad ergeben.
Oder anders ausgedrückt, den Ort, an dem sich Bologna nach 12 Stunden Drehung befinden könnte, wenn es selbst nicht mit von dannen führe um die Erdachse herum.
Diesen Ort wollte ich benennen. „Antipoden“ ist ja woanders, also nenne ich ihn einfach „Halbtagskraft“, was jeder Physiker sofort als falsche Benennung ankreiden wird, Halbtagspunkt ist vielleicht besser.
Egal, Opa versuchte dann, diesem Ort bei 135 Grad mit dem Kosinus auf den Leib zu rücken.
Dazu legte er sich in Excel eine Tabelle an, senkrecht in der ersten Spalte alle Gradzahlen von 0 bis 360 Grad. Rechts daneben in die zweite Spalte B dann =COS(BOGENMASS(A..)).
Damit nicht genug, ich nehme aus meiner altmodischen Kosinuszeichnung noch die von mir selbst, mit Gastes Hilfe, entwickelte Excel-Formulierung für Bogenmaß in die dritte Spalte C, um zu prüfen, ob letztere auch stimmt, also =COS(A..*2*PI()/360) in Spalte C.
Da ich nun alles so genau wie nur möglich vergleichen wollte, hatte ich die Zellen in B und in C vorher formatiert auf Zahl und ausgefahren auf das Maximum, auf 30 Stellen nach dem Komma.
Und jetzt traten komische Erscheinungen auf, die ich mir alleine nicht so ganz erklären kann.
Ich meine dabei nicht, daß die Werte von 0 bis 90 Grad positiv, dann bis 270 Grad negativ und im letzten Viertelkreis zwischen 270 und 360 Grad wieder positiv erscheinen, sondern zwei, drei andere Sachen.
1) Bei 90 Grad und bei 270 Grad, da zeigt Excel doch tatsächlich noch auf den letzten Stellen nach dem Komma Ziffern an. – Bislang hatte ich gedacht, dieses Programm könne nur 15 oder 16 Stellen nach dem Komma verrechnen und würde danach immer 16 Nullen anzeigen.
2) Ich habe die Werte von Spalte B summiert und dann die von C summiert, geringe Abweichungen in den Summen. Beim Abziehen der Summen voneinander, da werden wieder Ziffern auf den letzten Stellen bis 30 angezeigt.
Dann, beim Abziehen der einzelnen Gradwerte voneinander, bei einer waagerechten Kontrolle von 0 bis 360, da erschienen 22 Abweichungen von 0.
Ist nun mein Excel kaputt, oder haben schon andere solche Erscheinungen beobachtet?
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 06. Apr 2006 04:57    Titel: Antworten mit Zitat

Endlich ist sie eingetroffen, eine von Wagenscheins Quellen, W. Brunner, Dreht sich die Erde? 1915. Es gab im Netz bei der Antiquariatssuche unter SFB.at/index.phb wohl acht Exemplare, jetzt dürften es noch sieben sein.
Ich mußte meine Anschaungsgrundlagen und mein vorläufiges Wissen beträchtlich erweitern. Jetzt sehe ich, von meinem kindlichen Denken her, auf dem Wege vom Anschaulichen zum Abstrakten hin, da muß ich tatsächlich den Erdball verschwinden lassen, zum Einheitskreis mit dem Radius 1 übergehen.
Die Kreisformel U = 2 pi r wird dann zu U = 2 pi und wenn ich für den Umfang U nun 360 Grad einsetze, dann steht da 360° = 2 pi.
Damit haben die alten grauen Zellen eine Hürde genommen.
Eine zweite große Hürde war der Übergang von 24 mal 60 mal 60 Sekunden, von 86400
„Sternzeitsekunden“ zu den 86164 mittleren Sekunden. Fast hätte ich dem Verlangen nachgegeben, auf den vielen Seiten des Netzes zu Sternzeit, Sonnenzeit, Zeitgleichung usw. nachzurechnen, indes schreibt auch Brunner von 86164 Sekunden, und setzt dann
omega = 2 pi / 86164 = 0,00007292 als den Weg eines Punktes, bei Entfernung 1 von der Drehachse, in einer mittleren Zeitsekunde.
Er kommt dann für den Ort P in der geographischen Breite phi, in seinem Abstand von der Erdachse r cos phi
zur Rotationsgeschwindigkeit v 1 = omega r cos phi.
Dann, vgl. folgende Zeichnung, bestimmt er die Rotationsgeschwindigkeit des Ortes Q, die auf einem Turm, mit
v 2 = omega (r + h) cos phi.
Die Überschrift seines Kapitels lautet 2. EINE ERSTE UNVOLLSTÄNDIGE HERLEITUNG DER ÖSTLICHEN ABWEICHUNG



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Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 06. Apr 2006 04:59    Titel: Antworten mit Zitat

Die wichtigsten Festsetzungen/Gleichungen bezeichnet er am Rande mit fortlaufenden Nummern in Klammern, das waren bis jetzt
Winkelgeschwindigkeit der Erde
omega = 2 Pi / 86164 = 0,00007292 (1)
und
v 1 = omega r cos phi (2).
Nach zwei, drei Zwischenstationen, er rechnet v 1 – v 2; setzt dabei die Fallzeit t ein;
setzt für die Fallhöhe h noch 1 / 2 g t² ein; kommt er dann zur Gleichung oder zum nächsten Denkschritt bei der „unvollständigen Ostabweichung“:
x = 1 / 2 „w“ g t ³ cos phi (3)
und schreibt:
„Das ist die Formel für die östliche Abweichung beim freien Fall, wie sie in vielen Lehrbüchern der mathematischen Geographie angegeben ist. Sie ist aber nicht richtig und gibt die Abweichung zu groß an, wie die folgende Überlegung zeigt. ...

Langsam begreife ich diese ersten drei Denkschritte, obwohl ich ja damit und auch mit dem nächsten (4) schon gerechnet hatte. Und obwohl Markus und Gast die Sachen in allen Einzelheiten bestens schon beschrieben hatten.
So kann ich denn die Bemühungen der beiden verstehen und möchte ihnen danken.
Meine Anschauungsgrundlage, der Erdball, die mußte erst einmal verschwinden, um
mit den Buchstaben und Zahlen freier rechnen zu können. Das verdanke ich mithin den Netzseiten bisher und neuerdings dem Büchlein von Brunner.
Solch ein Büchlein aus dem Jahre 1915 hat schon etwas an sich.
Ehe Brunner den Fehler von (3), der vorigen Ableitung, beim Leser korrigiert, mit (4) in einem ersten Anlauf und mit (7), der endgültigen Fassung, da bringt er viel mir halbwegs verständlichen Text und dazwischen mir ziemlich (besser: ganz und gar) unverständliche Formeln und Gleichungen, eine Hilfsformel über Summation von Binominalkoeffizienten und eine „Elementare Herleitung der Größe der östlichen Abweichung beim freien Fall“.
Hier ein paar Sätze aus beiden Anläufen.
„Im Augenblick, in dem der Körper zu fallen beginnt, wirkt die Schwere senkrecht zur horizontalen, nach Osten gerichteten Geschwindigkeit. Nach einem kleinen Zeitteilchen schon ist das aber nicht mehr der Fall. ... Wenn der Körper losgelassen wird und frei fällt, ist v 1 nicht mehr konstant, sondern abnehmend. ...Gauß und Laplace haben zuerst genauere Formeln angegeben für die Berechnung der östlichen Abweichung frei fallender Körper. Sie haben gezeigt, daß für kleine Fallzeiten, wie sie bei praktischen Versuchen in Betracht kommen können, die östliche Abweichung um 1/6 ihres Wertes kleiner ist, als sie die Formel (3) angibt, nämlich nur
x = 1/3 g „w“ t³ cos phi.“ (4)
Im zweiten Anlauf dann, „elementare Herleitung“:
„Wir denken uns die Fallzeit t (hoch s) in sehr viele kleine Zeitelemente (delta) t zerlegt. Es sei t = n (delta) t, wobei (delta) t einen so kleinen Bruchteil einer Sekunde darstellt, daß man sich die Erdschwere anstatt kontinuierlich wirkend, in jedem dieser Zeitelemente mit der Größe c aufs neue angreifend vorstellen kann; ...“
Dann wird’s für mich zu kompliziert. Mit einem großen Sigma summiert er wohl allerlei „n“
macht einen Grenzwert mit limes, der auf 1/6 hinauskommt.
„so daß x = 1 / 2 g „w“ t³ - 1 / 6 g „w“ t³ = 1 / 3 „w“ g t³ im Schritt (6) erscheint.
Zuletzt ersetzt er in den vorhergehenden Gleichungen
R durch R cos phi und c durch c cos phi.
„Macht man das, so ergibt sich für die östliche Abweichung des frei fallenden Körpers der behauptete und von Gauß und Laplace herrührende Wert ....... (7)“ ... = oben (4).
- Coriolis scheint bislang nicht erwähnt. Mal sehen, ob er in den nächsten Kapiteln noch erscheint, bei den Versuchen des Direktors der vatikanischen Sternwarte, Hagen, 1912 mit der Atwoodschen Fallmaschine, bei Foucaults Versuch auf Anregung von L. Napoléon im Panthéon, bei Versuchen von Bravais (konisches Pendel), beim Kreisel (Gyroskop) und sonstigen Beschreibungen im Büchlein von Brunner.
dermarkus
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Beitrag dermarkus Verfasst am: 06. Apr 2006 21:05    Titel: Antworten mit Zitat

Opas Quellenspürsinn und das, was er daraus gewinnt, bereitet mir große Freude. Brunners Skizze ist sehr schön anschaulich und bringt den Sachverhalt gut auf den Punkt, weil er die benötigten Formeln direkt mit dem zugehörigen Bild stützt.

Und Brunner macht sich die Mühe, die genaue Formel für die Ostablenkung auf dem Weg herzuleiten, der mir (statt meiner Rechnung mit der Corioliskraft) als der kompliziertere schien, und den ich deswegen nicht gehen mochte. Dass er sich dabei sogar die Mühe macht, die dabei verwendete Integralrechnung so zu erklären, dass man diese nicht bereits vorher beherrschen muss, ist aller Ehren wert. (Auch wenn ich den Eindruck gewinne, dass seine Herleitung dadurch recht lang und auf den ersten Blick nicht immer übersichtlich nachzuvollziehen sein mag. Um so größer ist die Leistung derjenigen, die sich daran versuchen, sie nachzuvollziehen.)

Dass das Rechnen in Excel mit der Funktion "Bogenmaß" und mit der Konstante PI und mit den Winkelfunktionen wie dem Cosinus nicht immer dort Null ergibt, wo Null herauskommen soll, wenn man die Genauigkeit auf 30 Stellen fordert,

mag daran liegen, dass entweder eine dieser Funktionen oder Konstanten nicht auf diese hohe Genauigkeit ausgelegt sind

oder dass Excel die Rundungsfehler, die es macht, weil es die Zahlen hinten irgendwo abschneiden muss, bei dieser Genauigkeit eventuell nicht mehr z.B. dadurch versteckt, dass es intern mit mehr als 30 Stellen rechnet und dann nur das auf 30 Stellen gerundete Ergebnis angibt.

(Mein Taschenrechner zum Beispiel rechnet auf 11 geltende Ziffern genau und zeigt die Ergebnisse auf 8 geltende Ziffern gerundet an, damit man sich nicht über seltsame Abschneidefehler wundern muss.)

Aber solch eine hohe Genauigkeit habe ich ehrlich gesagt noch nie von Excel für meine Rechnungen gebraucht und verlangt.
O
Gast





Beitrag O Verfasst am: 11. Apr 2006 05:45    Titel: Antworten mit Zitat

Anmerkungen (v. O.) zur Tabelle:
1) Bologna liegt bei 44° 30’, hier also bereits 1915 falsch angegeben.
2) Freiberg ist hier richtig angegeben, - nicht Freiburg i. S., wie in Wagenscheins Arbeit
„Die Erfahrung des Erdballs“. (in Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, Band II, Klett 1970).



Tab Brunner 1915.jpg
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Tab Brunner 1915.jpg


O
Gast





Beitrag O Verfasst am: 11. Apr 2006 05:48    Titel: Antworten mit Zitat

Brunner schreibt 1915 im Anschluß an die Tabelle:
„Einige historische Bemerkungen mögen die Zahlen der Tabelle ergänzen und zeigen, wie heikel die Versuche sind und welche Schwierigkeiten zu beseitigen waren.
Im Jahre 1679 machte Newton die Royal Society (eine der ältesten wissenschaftlichen Gesellschaften) auf die östliche Abweichung der frei fallenden Körper aufmerksam und auch auf die Möglichkeit, daraus die Erdrotation nachzuweisen.
Die Gesellschaft beauftragte ihren berühmten Experimentator Rob. Hook, solche Versuche anzustellen. Da aber dabei nur eine Fallhöhe von 27 Fuß verwendet wurde, so konnten diese Versuche keinen Erfolg haben, denn unsere Formel gibt für diese Fallhöhe eine Abweichung von weniger als 1 / 2 mm. Dieser Mißerfolg hat wohl bewirkt, daß lange keine weiteren Versuche unternommen wurden und erst G u g l i e l m i n i nahm sie 1791/2 wieder auf, zuerst bei geringer Fallhöhe im Observatorium und dann mit einer Fallhöhe von 241 Fuß = 78.3 m im Turm Asinelli in Bologna.“
-------------------
Die Formel von Markus war
Sc = cos phi * „w“ * g * 1/3 * t³
die Formel von Brunner war
x = 1/3 * g * „w“ * t³ * cos phi;
die Formeln stimmen überein, nur erscheinen die Buchstaben in anderer Reihenfolge.
Auf den ersten Blick sieht man vier Buchstaben: g, omega („w“), t und phi.
Versteckt sind 2 weitere Buchstaben, nämlich Pi und die Fallhöhe h.
Es gibt also sechs „Variable“, die sich verschieden stark auswirken können.
1) Pi, da kommt es darauf an, ob man mit 1, 2, 3, 4, usw. Stellen nach dem Komma rechnet.
2) g als Erdbeschleunigung, da hatten wir entweder 9,81 genommen oder andere Werte aus der Braunschweiger Tabelle.
3) „w“ = omega, die Winkelgescheindigkeit, dahinter verbarg sich die Rechnung 2 Pi / 86164 mittlere Sonnenzeitsekunden (statt 24 Stunden mal 60 Minuten mal 60 Sekunden = 86400 Sekunden).
4) cos phi, dahinter steckte cos (Bogenmaß(44,5)) oder cos (44,5 mal 2 Pi/360).
5) t³, da war t zu errechnen mit Wurzel aus (2 h / g) nach dem Fallgesetz.
6) die Fallhöhe h, die gerade eben erst in 5) auftauchte.

Für den Unterricht in der Volksschule galt ein didaktischer Grundsatz:
Variable können erst eingeführt werden, nachdem variiert worden ist.

Dank der Hilfen von Gast und Markus konnte ich nun einigermaßen mit den verschiedenen Bestandteilen der Formel rechnen, nach vielen Variationen der Zahlen bei den Variablen.
--------------------
Ich wende nun das Gelernte an auf den Mißerfolg von Robert Hook, aus nur 27 Fuß Fallhöhe.
Ein englischer Fuß hat 12 inches (von lat. uncia); 1 inch = 2,54 cm; das gibt die Rechnung 27 mal 12 mal 2,54 cm = aufgerundet 8,23 Meter Fallhöhe.
London liegt bei 51,5 Grad; für g nehme ich 9,81.
Dann liefert die Formel eine östliche Abweichung von 0,32 mm.
Hätte Robert Hook den Versuch mit dreifacher Fallhöhe gemacht, ich nehme genau 25,61 Meter, dann würde die Ostabweichung 1,77 mm betragen haben, der Berechnung nach diejenige, die 1902 von Hall in Cambridge (Mass.) mit seinen 948 Versuchen erreicht wurde, ungefähr (1902-1679) also 223 Jahre später. Richtig?
Brunner weiter über den Asinelliversuch Guglielminis:
„Er hing 16 mal eine Metallkugel an einem Faden auf, der in den Backen einer Zange festgehalten wurde. Ein leichter Druck auf einen Hebel öffnete die Zange und brachte den Körper zum Fallen. Um die Auftreffstellen genau zu kennen, bediente er sich eines mit Wachs überzogenen Brettes. Der Schwerpunkt der 16 Auffallpunkte gab ihm den relativ wahrscheinlichsten Auftreffpunkt. Durch Messung seiner Entfernung vom Lotpunkt der Ausgangsstelle erhielt er nach Größe und Richtung den Wert der Ablenkung vom Lot.
Es sind zwei Punkte, die den Wert der Versuche von G u g l i e l m i n i als mechanische Nachweise der Erdrotation heruntersetzen. Erstens hat Guglielmini leider erst sechs Monate nach den Beobachtungen den Lotpunkt bestimmt. Nachprüfungen zeigten aber, daß der Versuchsturm sehr wenig stabil ist, so daß leider fast sicher der Lotpunkt der Ausgangsstelle zur Zeit der Versuche ein anderer war, als zur Zeit seiner Bestimmung. Beobachtungen über die Bewegung der Eiffelturmspitze, die in den letzten Jahren angestellt worden sind, bestätigen die Veränderlichkeit der Lotlinie von hohen Türmen. Die Eiffelturmspitze zeigt nämlich eine tägliche Bewegung, die durch Sonnenwärme verursacht wird und je nach den atmosphärischen Bedingungen zwischen 3 cm und 17 cm schwankt. Guglielmini hat nun allerdings seine Versuche in der Nacht angestellt. Aber gerade die Beobachtungen am Eiffelturm zeigen auch mit den Jahreszeiten wechselnde Änderungen der Lage des Turmes. Guglielmini machte die Fallversuche im Sommer und bestimmte die Lotlinie im Winter. Man darf wohl kaum voraussetzen, daß der Turm zu beiden Jahreszeiten dieselbe Lage hatte gegenüber der Ausgangsstelle. Ein zweiter, auch von den Nachfolgern schwer zu überwindender Punkt betrifft die Aufhängevorrichtung der Kugeln. ...“
Gast






Beitrag Gast Verfasst am: 11. Apr 2006 13:01    Titel: Antworten mit Zitat

Die berechneten Werte für London mit 8,23 m und 25,61 m stimmen. Ich habe mich auch gefragt, wie die Leute das Freilassen der Kugeln ohne alle seitliche Bewegung gelöst haben. Das mit dem Faden ist sicher eine gute Idee, solange die Kugel nicht pendelt. Hooke und Newton hatten wohl einen größeren Effekt erwartet für ihren Nachweis der Erddrehung.

---

Die 'mittlere Sonnenzeitsekunde' gibt es nicht, denn die Sekunde ist nicht über die Länge des Tages definiert, also nicht bezogen auf die Rotation der Erde um sich selbst und um die Sonne. Diese werden vielmehr in Sekunden ausgedrückt.

---

Als Ergänzung zum Pyramiden-Rätsel: Herodot schrieb, die Fläche einer Seite der Großen Pyramide sei gleich dem Quadrat der Höhe des Bauwerks. Die Giza-Pyramide ist ja etwas niedriger als eine reguläre Pyramide, bei der alle Kanten gleiche Länge hätten.

Die Rechnung wird einfacher, wenn man die Basislänge b gleich 2 setzt, die Maßeinheit ist ohne Bedeutung, da es nur um Verhältnisse geht. Die Fläche eines Dreiecks bestimmt sich als die Hälfte des Produkts aus Basislänge und Höhe des Dreiecks. Nennt man die Höhe des Dreiecks h, dann ist die Fläche wegen b/2 = 1 auch h (Quadrateinheiten). Die räumliche Höhe H der Pyramide kann dann über H^2 = h^2 - 1 (Pythagoras) bestimmt werden, was zu der Gleichung h^2 - 1 = h führt, anders geschrieben h^2 - h - 1 = 0. Die Lösung dieser Gleichung ist h = (1 +/- Wurzel(5))/2, diese Zahlen werden meist Phi und phi genannt und sind das Verhältnis des sogenannten Goldenen Schnitts. Zum gleichen Ergebnis führt der Ansatz (a + b)/a = a/b, also das Ganze zum Großen wie das Große zum Kleinen (Hermes): 1 + b/a = a/b, wobei a/b das gesuchte Verhältnis x des größeren zum kleineren Abshnitt ist, also ergibt sich mit a/b = x dann x = 1 + 1/x oder wieder, genau wie bei der Pyramide, x^2 - x - 1 = 0. Dafür gibt es auch eine zeichnerische Lösung:

http://goldennumber.net/images/anifrect.gif

Für die zweite Lösung (phi) muss man einfach den Bogen nach links statt nach rechts zeichnen, phi wird dann 1 - Phi.
dermarkus
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Anmeldungsdatum: 12.01.2006
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Beitrag dermarkus Verfasst am: 11. Apr 2006 17:24    Titel: Antworten mit Zitat

O hat Folgendes geschrieben:
Ich wende nun das Gelernte an auf den Mißerfolg von Robert Hook, aus nur 27 Fuß Fallhöhe.
Ein englischer Fuß hat 12 inches (von lat. uncia); 1 inch = 2,54 cm; das gibt die Rechnung 27 mal 12 mal 2,54 cm = aufgerundet 8,23 Meter Fallhöhe.
London liegt bei 51,5 Grad; für g nehme ich 9,81.
Dann liefert die Formel eine östliche Abweichung von 0,32 mm.

Einverstanden.

O hat Folgendes geschrieben:

Hätte Robert Hook den Versuch mit dreifacher Fallhöhe gemacht, ich nehme genau 25,61 Meter, dann würde die Ostabweichung 1,77 mm betragen haben, der Berechnung nach diejenige, die 1902 von Hall in Cambridge (Mass.) mit seinen 948 Versuchen erreicht wurde, ungefähr (1902-1679) also 223 Jahre später. Richtig?

Ich finde, dass:

3 * 8,23 m = 24,69 m,

und erhalte daher für die dreifache Höhe eine östliche Abweichung von 1,68 mm.
Opa



Anmeldungsdatum: 19.03.2006
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Beitrag Opa Verfasst am: 12. Apr 2006 00:38    Titel: seitliche Bewegung Antworten mit Zitat

Vielen Dank für Herodot, muß mich damit erst noch beschäftigen.
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„und erhalte daher für die dreifache Höhe eine östliche Abweichung von 1,68 mm.“
Ja, das stimmt. Ich hatte das Wort „ungefähr“ vor dreifache vergessen, wollte nur einen Vergleich zu Hall mit seinen 1,77 mm ziehen. Nehme ich die genau dreifache Höhe, also 24,69 m, dann kommt bei mir 1,676 mm heraus. – Schon toll, was man alles mit solchen Formeln rechnen kann.
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Zu „mittlere Sonnenzeit-Sekunde“ schreibt Brunner 1915: „Die Zeit einer vollen Umdrehung der Erde heißt ein Sterntag. Er hat 24*60*60 = 86400 Sternzeit-Sekunden. Im gewöhnlichen Leben rechnen wir nach mittlerer Sonnenzeit 1). Eine mittlere Sonnenzeit-Sekunde ist etwas größer als eine Sternzeit-Sekunde und hat nur 86164 mittlere Zeitsekunden. – 1) Vgl. Math. Bibl. Nr. VIII: Paul Meth, Theorie der Planetenbewegung, Abschnitt 10.“
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„Ich habe mich auch gefragt, wie die Leute das Freilassen der Kugeln ohne alle seitliche Bewegung gelöst haben.“
Brunner: „ Die kleinste seitliche Wirkung beim Öffnen der Zange behält ihre Einwirkung während der Fallzeit bei und kann die Haupterscheinung der östlichen Abweichung vollständig verdecken.
Der Hauptwert der Versuche von Guglielmini liegt aus diesen Gründen weniger in ihren Ergebnissen als in der Tatsache, daß er die praktische Möglichkeit des Nachweises der Erdrotation durch Fallversuche zeigte und die Umstände, auf die besonders zu achten ist, aufdeckte.
B e n z e n b e r g, der zehn Jahre später die Versuche wiederholte, zuerst im Michaelisturme in Hamburg und dann in einem Kohlenschacht zu Schlebusch, konnte die Erfahrungen Guglielminis benutzen. ... Benzenberg achtete auch auf genaue Bestimmung des Lotpunktes, indem er ihn zweimal, einmal vor und dann wieder nach jeder Beobachtungsreihe feststellte. Den Einfluß der seitlichen Störungen, die von der Aufhängevorrichtung und von der Art der Loslösung der Kugeln herrühren konnten, suchte er dadurch einigermaßen aufzuheben, daß er nach jeder Beobachtungsreihe die Aufhängevorrichtung um 180° drehte. Die Versuche in Schlebusch hatten besonders den Vorteil, daß der Lotpunkt im Kohlenschacht stabiler war als im Holzturm in Hamburg. ....
Die Versuche Benzenbergs hatten außerdem noch den großen Erfolg, Gauß und Laplace für die Sache zu interessieren, durch die dann die Theorie der Lotabweichung so wesentlich gefördert wurde, daß die Frage nach mechanischen Nachweisen der Erddrehung neuen Reiz erhielt. ......
Reich (1831) ... konnte über eine Fallhöhe von 158.5 m verfügen, doppelt soviel wie diejenigen in Hamburg und Bologna. Er brachte bei einem Teil der Versuche mit Vorteil eine neue Art der Befestigung und Einleitung des freien Falles der Kugeln zur Anwendung. Nachdem die Bleikugeln in kochendem Wasser erwärmt und dann getrocknet worden waren, wurden sie auf einen Metallring gesetzt. Ihre Abkühlung und damit verbundene Volumenverminderung bewirkte, daß sie durch den Ring fielen.“ ....
„Flammarion machte seine Fallversuche 1903 im Panthéon zu Paris, ... Kleine, gut polierte, homogene Stahlkugeln wurden von einem Elektromagneten festgehalten. Im Augenblick, wo der Strom ausgeschaltet wurde, fielen die Kugeln. Sie wurden auf einer Bleiplatte von 2 1/2 mm Dicke mit Stahlunterlage aufgefangen und auf dieser Platte waren der Lotpunkt und die N-S und O-W-Richtungen bezeichnet. Fig. 7 zeigt in natürlicher Größe eine Zeichnung der Eindrücke der 12 Kugeln einer Serie. Die Tendenz nach Osten aufzufallen ist deutlich erkennbar. Die Gruppierung um die Ost-Westlinie entspricht dem Gesetz des Zufalls. Unter den 12 Kugeln weichen gleich viele nach Norden wie nach Süden ab. Die Gruppierung aber um die Süd-Nordachse kann nicht mehr als zufällig bezeichnet werden. Die Abweichungen nach Osten dominieren der Zahl und der Größe nach.“



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Fig. 7 Flammarion, eine Serie
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Beitrag dermarkus Verfasst am: 12. Apr 2006 17:23    Titel: Re: seitliche Bewegung Antworten mit Zitat

Opa hat Folgendes geschrieben:

Zu „mittlere Sonnenzeit-Sekunde“ schreibt Brunner 1915: „Die Zeit einer vollen Umdrehung der Erde heißt ein Sterntag. Er hat 24*60*60 = 86400 Sternzeit-Sekunden. Im gewöhnlichen Leben rechnen wir nach mittlerer Sonnenzeit 1). Eine mittlere Sonnenzeit-Sekunde ist etwas größer als eine Sternzeit-Sekunde und hat nur 86164 mittlere Zeitsekunden. – 1) Vgl. Math. Bibl. Nr. VIII: Paul Meth, Theorie der Planetenbewegung, Abschnitt 10.“

Ich denke, dieses Zitat ist an einer Stelle etwas kurz geraten, und Brunner wird gemeint haben:
... , und ein Sterntag hat nur 86164 mittlere Sonnenzeit-Sekunden.

------------------
Die genannten Quellen sind ein schönes Beispiel dafür, auf welche Ideen Experimentatoren kommen, wenn sie merken, dass eine Verbesserung des Versuchsaufbaus für die gewünschte Genauigkeit des Ergebnisses erforderlich ist smile Besonders schön finde ich die Idee mit den erwärmten Kugeln smile
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 13. Apr 2006 18:47    Titel: Pyramidenphi Antworten mit Zitat

Es ist wohl kein rätselhaftes Pyramidengeheimnis, sondern eher der Normalfall, wenn das von Herodot beschriebene Verhältnis Quadrat der Höhe zu Dreiecksfläche gegeben ist.
Die Babylonier bauten Deiche in Trapezform. Sofern es sich um ein gleichschenkliges Trapez handelt, am Fuße mit der Breite b, oben sei die „Krone“ des Deiches eine parallele Linie k, die gleichlangen Schenkel seien s, so kann man eine Diagonale ziehen namens c, die vom Fuße links unten zum Kopfe rechts oben verläuft. Von da fälle man noch das Lot a auf die
Grundlinie. Man kommt dann zur Trapezdiagonalformel c² = s² + b*k. (Sie entspricht dem heutigen sogenannten Kosinussatz unter Vermeidung von Winkelfunktionen. – Der Satz des Pythagoras ist nur ein Spezialfall der allgemeineren Trapezdiagonalformel, die für alle Dreiecke zutrifft.)
Man kann auch ein regelmäßiges Fünfeck mit der Seite s und der Diagonale d nehmen. Bei diesem entspricht die Grundlinie des Trapezes (b) jetzt der der Diagonale d, und die Krone des Deiches (k) entspricht dann der Seite s des Fünfecks.
Die Gleichung d² = s² + d*s läßt sich dann umformen zu
d/s = s/(d – s), was der stetigen Teilung entspricht, der „stäten Proportz“ (Schmid 1539), der „Divina Proportione“ (Luca Pacioli 1445-1514), der proportio continua, der „göttlichen Teilung“ (Kepler).
Der Goldene Schnitt tritt also beim Deich der Babylonier auf, sicherlich bei vielen anderen geometrischen Konstruktionen, bei Euklid bei der Konstruktion des Pentagramms, so daß man von einem geheimnisvollen Wunder eher dann sprechen könnte, wenn er bei der Pyramide nicht gegeben wäre.

Bin dem Link in der Zeichnung gefolgt und auf eine „phi“-Seite gestoßen, goldennumber.net
Da wird ja ein ordentlicher Kult mit den Karnickelzahlen des Leonardo von Pisa, des Sohnes des Gutmütigen, betrieben. Neben viel Interessantem und wohl auch Richtigem mißfällt am Kulte, daß er sich überall hin ausbreiten will, auch dahin, wo er nichts zu suchen hat, in die oberste aller alten Wissenschaften, in die Musik
Da steht zum Beispiel als Überschrift:
“Musical frequencies are based on Fibonacci ratios”
Dem muß Opa nun doch widersprechen.
In einer Tabelle werden dort sogenannte temperierte Frequenzen angegeben, die es in der Musik eigentlich nicht gibt, weder in der Stimmung Bachs, noch in einem Symphonieorchester, noch beim Gesang. Diese gleichstufige 12 tönige Stimmung geht davon aus, wie man auch in Schulbüchern lesen muß, daß sich der Quintenkreis schließt, die 12. Quinte mit dem Ausgangston C zusammenfällt, wobei die siebente Oktave des C der zwölften Quinte entsprechen soll. Da die Oktavzahl 2 ist und die Quintzahl 3, müßten demnach die Zahlen 2 und 3, bzw. deren Vielfache zusammenfallen. Dies aber kann so leicht nicht geschehen, daß eine gerade Zahl wie die 2 jemals mit einer ungeraden Zahl wie der 3 zusammenfällt.
Die siebente Oktave von C ist 2 hoch 7 = 128. Die zwölfte Quinte ist (3/2) hoch 12 = 129,74634.
Die 12. Quinte mit Tonnamen HIS liegt also über dem Ausgangston C, und zwar um 23,460012 Cent. (1 Cent ist definiert als der 1200. Teil der Oktave.)
Eine andere Rechnung, wahrscheinlich bereits den Griechen bekannt, ist 3 hoch 12 = 531441.
Sucht man dazu die entsprechende Zahl der Oktave 2, dann findet man 2 hoch 19 = 524288.
Das Intervall 531441 / 524288 wird Pythagoräisches Komma genannt, es hat 23,46 Cent und entspricht dem genannten HIS, das über dem C liegt.
Nun vergleicht man auf der phi-Musikseite einige wenige Intervalle dieser Notbehelfsstimmung mit den Intervallen, die sich in Anwendung jener Zahlen der in Leonardos Buch am Rande gegebenen Kanichenaufgabe ergeben.
Sicher kennt die Mathematik auch noch andere Reihen von Zahlenverhältnissen, mit denen sich dann gewiß auch Intervalle konstruieren ließen, die man dann wiederum mit den in der Musik nicht üblichen vergleichen mag, auf Teufel komm raus, wenn man will. Eigentlich gibt es unendlich viele Intervalle innerhalb einer Oktave, weil es unendlich viele Zahlen gibt.
Und es gibt ebenso unendlich viele Reihen beim Konstruieren weiterer Reihen nach dem Prinzip der Kaninchenpaarlösung, zum Beispiel 1, 5, 6, 11, 17, 28, 45, 73, 118, 191, 309, 500, 809 ..., wobei das Verhältnis 500 zu 809 = 1,61810... bereits auf vier Stellen nach dem Komma genau dem Wert des GS entspricht.
Opa denkt, wenn man mit Rechtecken, Quadraten und Kreisen arbeitet, dann treten ganz „normale“ Wurzeln, stäte Proportzen und Werte von Pi auf. So haben einige auch die Kreiszahl Pi aus dem gleichen Verhältnis Herodots herausgezogen, allerdings nur mit zwei Stellen nach dem Komma genau. (2b/h = 3,1446...).
Quellen zur Trapezdiagonalformel und zur Pyramide: Helmut Kracke, Aus eins mach zehn und zehn ist keins, rororo TB 6680, letzte Auflage 1972, selten noch in Antiquariaten;
zum GS: Helmut Reis, Der Goldene Schnitt, Verlag für systematische Musikwissenschaft, Orpheus-Schriftenreihe, Band 54, Bonn, 1990.
Kepler, der kaiserliche Mathematiker, Hofastronom und –astrolog war lange im Glauben an eine Art göttlicher Harmonie bei der Divina Proportione befangen
Er schrieb u. a.: „Nun hat aber Gott der Schöpfer die Gesetze der Zeugung jener Teilung entsprechend gestaltet. ... Ist es also verwunderlich, wenn die Abkömmlinge des Fünfecks, die Durterz 4/5 und die Mollterz 5/6, die Seelen, die Ebenbilder Gottes, in Stimmungen versetzen, wie sie beim Zeugungsakt auftreten?“
Die von Kepler genannte Durterz 5/4 besitzt 386, 3137 Cent. Diejenige „Terz“ der gleichstufigen Temperatur soll glatte 400 Cent besitzen. Möglicherweise sind elektrische Klaviere und die Computersoundkarte mit den 400 Cent ausgerüstet und wir lassen uns täglich per Fernsehen oder Rundfunk mit dieser falschen Terz bedröhnen, nicht also mit Musik, sondern mit Elektrogejaule. Dann könnte dies ja die Ursache sein, weshalb der Zeugungakt nicht mehr ordentlich vonstatten gehen kann und wir zuwenig Kinder haben, die Rentenversicherung pleite geht und der Staat zusammenbricht?
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Beitrag dermarkus Verfasst am: 13. Apr 2006 20:25    Titel: Antworten mit Zitat

Ich meine auch, dass die genannte Internetseite ziemliche Klimmzüge unternimmt, um die Frequenzverhältnisse der wichtigsten reinen Intervalle mit den Fibonaccizahlen in Verbindung zu bringen.

Weil z.B. die reine Quarte ja ein Frequenzverhältnis von 4/3 hat, und die 4 nun mal keine Fibonaccizahl ist, basteln sie sich eine "Quarte" behelfsmäßig durch einen Quintsprung nach unten.

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Was die temperierte Stimmung angeht, habe ich ihr allerdings keinen Fehler anzukreiden:

Die sogenannten reinen Intervalle haben ganzzahlige Frequenzverhältnisse. Stimmt man aber ein Klavier in diesen reinen Intervallen, dann klingen manche Tonarten sehr schief.

Gerade Bach durfte die Zeit erleben, als die Klavierstimmer angefangen haben, deshalb alle Halbtöne gleich groß zu machen (also 100 Cent) und damit das Klavier temperiert zu stimmen. Und hat sich gleich inspiriert gefühlt, sein "wohltemperiertes Klavier" zu schreiben, in dem er alle zwölf Tonarten verwendet.

Und weil Orchester diese temperierte Stimmung verwenden, haben sie auch kein Problem, Stücke zu spielen, bei denen zwischen (im Quintenzirkel) weit entfernten Tonarten gewechselt wird.
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 14. Apr 2006 05:05    Titel: Antworten mit Zitat

In Sachen Temperatur
Ein Standardwerk auf diesem Gebiet ist: Martin Vogel, Die Lehre von den Tonbeziehungen, Bonn 1975. Es dürfte in vielen Musikbibliotheken der Universitäten auf der ganzen Welt stehen. Daraus und dazu ein paar knapp zusammengefaßte Sätze:
Danach gibt es fast keinen Klavierstimmer, der nach Gehör die gleichstufige Temperatur legen kann, weil sie dem Gehör widerspricht. Schafft er es doch, dann sind alle Töne (außer der Oktav) verstimmt.
Bach hat sein Klavier mit Sicherheit ungleichschwebend gestimmt. Er hat höchstwahrscheinlich die Stimmung benutzt, die sein Schüler Kirnberger überlieferte, und die sich in Deutschland als allgemein verwendete bis ins 19. Jahrhundert hinein erhielt.

Die gleichstufige Temperatur mit ihren nur 12 Halbtonschritten zu 100 Cent wird auch von den Orchestern nicht verwendet. Denn die Streicher und die Bläser unterscheiden sehr genau
ein Gis von einem As, ein Des von einem Cis usw., Tonunterschiede, die bei der gleichstufigen Temperatur nicht mehr vorhanden sind.
Mein Großvater unterschied auf seiner Geige sehr wohl ein Ais von einem Bes oder ein Ces von einem Ceses. Ebenfalls konnte er ein E von einem Eis und dieses wieder von einem F unterscheiden.
Vogel gibt in einer ersten kleinen Aufstellung die 78 wichtigsten Intervalle. Dann folgt eine Tabelle mit einer 31-stufigen Temperierung, eine weitere mit 53 Tönen pro Oktave sowie eine Temperierung mit 171 Tönen pro Oktave.

Die derzeit käuflichen Klaviere haben nur 12 Töne = Tasten in der Oktave, viel zuwenig. Mein Großvater nannte diese Apparaturen Hilfsinstrumente.

Die Kirnberger-Stimmung wird heute wieder eingestimmt bei Orgeln, die, wenn sie gleichstufig temperiert werden, allzu scheußlich klingen, da sie die verstimmten Töne länger anhalten als ein Klavier. Man bekommt auch elektronische Heimorgeln auf Wunsch in Kirnberger-Stimmung. Die neuesten japanischen Geräte erlauben es sogar, jeden einzelnen Ton, angeblich auf den Cent genau, einzustimmen, dies dann abzuspeichern zu einer selbst gelegten Stimmung, wobei die Auswahl unter den historischen Stimmungen groß ist.

Die erste überlieferte Stimmanweisung ist das Erlangener Monochord aus dem Jahre 1470.
Bereits mit dieser Stimmung war es möglich, in allen 24 Dur- und Molltonarten zu spielen. Kirnbergers Stimmung weicht nur in einem Ton davon ab. Daß Bach gleichstufig temperiert hätte, ist ein Märchen. Die Musikwissenschaftler wissen im allgemeinen, daß Bachs Wohltemperiertes Klavier nicht in der gleichstufigen Temperatur vorgetragen werden darf, sofern man historische Werktreue anstrebt und nicht alle Tonhöhen des Komponisten verfälschen will zu einem temperierten Tonbrei.
Die Werke der Klassiker von Bach bis Beethoven sind nicht in gleichstufiger 12. Wurzel 2 Temperatur komponiert. Würde ein Orchester diese Werke, einschließlich Gershwin, in der gleichstufigen Behelfstemperatur vortragen können, dann allerdings würde alles verstimmt und schief klingen.
Vogels „Lehre von den Tonbeziehungen“ enthält die Geschichte der Intervalle und der Stimmungen von den Griechen bis heute. Da Vogel zugleich ein hervorragender Schriftsteller ist, kann ich dieses Werk eines großen Gelehrten unbedingt empfehlen.
dermarkus
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Beitrag dermarkus Verfasst am: 14. Apr 2006 18:10    Titel: Antworten mit Zitat

Ich gebe Opas Opa recht, dass Geiger auf ihrem Instrument viel feiner intonieren können, weil sie nicht wie ein Klavier an Tasten gebunden sind.

Die vielen verschiedenen temperierten Stimmungen für Orgeln sind in der Tat ein Mittelding zwischen reinen Intervallen und der gleichschwebenden Stimmung.

Ob man für ein Klavier heute oder zu Bachs Zeiten nun üblicherweise genau die gleichschwebend temperierte Stimmung nimmt oder eine der vielen temperierten Stimmungen, die es z.B. für Orgeln gibt, mag eine Frage der Gepflogenheiten, der Pragmatik oder des Geschmacks sein.
Gast






Beitrag Gast Verfasst am: 14. Apr 2006 19:07    Titel: Antworten mit Zitat

> So haben einige auch die Kreiszahl Pi aus dem gleichen Verhältnis Herodots herausgezogen..

Wie würde man denn mit Herodots 'Textaufgabe' allein auf Pi kommen statt auf Phi?

Die Breite und Höhe sind ja nicht wirklich bekannt da die Pyramide nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustand ist. Überliefert ist nur die Breite 440 Ellen, was immer das in Metern sein mag, die Höhe ist nicht direkt überliefert aber ihre Relation zur Breite berechenbar.

Aus Herodots Angaben ergibt sich (mit b = halbe Basisbreite, h = Höhe der Seite und H = Höhe der Pyramide) h/b = Phi und H/b = Wurzel(Phi). Daraus kann man das Verhältnis von halbem Umfang und Höhe gewinnen als 4b/H was ungefähr Pi ist. Pi selbst tritt aber hier nirgends auf, nur die Relation 4/Wurzel(Phi) = 3,1446. Näherungen gibt es so viele man sucht, Herodots Text aber ist mathematisch eindeutig. Und er betrifft allein die Große Pyramide, es gibt viele mit anderen Relationen.

-----

Was die Frage der 'guten Stimmung' betrifft sollte man nicht vergessen, dass hier kulturell konditionierte Gewohnheit im Spiel ist. Andere Länder, andere Töne?
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 15. Apr 2006 23:07    Titel: Geschmack? Antworten mit Zitat

> Ob man für ein Klavier heute oder zu Bachs Zeiten nun üblicherweise genau die gleichschwebend temperierte Stimmung nimmt <
Zu Bachs Zeiten... (1685 - 1750).
Die erste Berechnung der gleichstufigen Temperatur in Europa steht in einem Traktat des holländischen Mathematikers Simon Stevin um 1585, das nicht gedruckt wurde. Sein 1585 erschienenes Werk über Arithmetik enthält den Hinweis, daß die gleichmäßige, zwölffache Unterteilung des Verhältnisses 2 : 1 zur 12. Wurzel 2 führt.
Für eine Schrift des chinesischen Prinzen Chu Tsai-Yü, der ebenfalls die gleichstufige Temperatur berechnete, nimmt man das Jahr 1584 an.
Diese Arbeiten liegen mehr als hundert Jahre vor A. Werckmeister, dem in manchen Lexika die Erfindung der gleichstufigen Temperatur unterstellt wird. Werckmeister erfand in Wirklichkeit mehrere Stimmungen, die alle nichts mit der 12. Wurzel 2 zu schaffen haben, sondern mit rationalen Brüchen vorgehen.
Die gleichstufige Temperatur wurde rund 300 Jahre lang von den Musikern, Musikwissenschaftlern und Klavierstimmern strengstens abgelehnt.
1775: „Denn außer den Oktaven ist kein einiges Intervall rein, sie ist außerordentlich schwehr zu stimmen, und der Unterschied der Töne fällt ganz und gar weg, folglich auch das, was die Tonarten in Rücksicht auf den musickalischen Ausdruck wesentliches an sich haben. Sie ist dahero die schlechteste, welche gedacht werden kann.“ (G. F. v. Tempelhof).
1802 im Musikalischen Lexikon erklärt H. C. Koch, daß er sich ausschließlich der Kirnberger-Stimmung bediene, zumal sie „von den mehresten Theoretikern“ vorgezogen werde.
1836 in einer für Klavierkäufer und -händler bestimmten Schrift: „es unterliegt keinem Zweifel, daß die ungleichschwebende der gleichschwebenden Temperatur vorzuziehen ist“. (Chr. Thon).
1848 nennt die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung die Kirnberger-Stimmung „die berühmteste und die in der Praxis am meisten verbreitete“ aller Temperaturen.
1863, im Jahrbuch für musikalische Wissenschaft: „Ein temperirtes Intervall ist mathematisch genau zu berechnen, ist mechanisch leidlich herzustellen; eine musikalisch zu fühlende Bestimmung für das temperirte Intervall ist nicht da. Ein System nach welchem nicht gesungen werden kann ist ganz gewiss kein praktisches, keins auf das unsre Musik in Composition und Execution gegründet sein kann.“ (Hauptmann).
1893 E. Röntgen: „Es gehört zu den schwierigsten Aufgaben für einen Violinspieler, eine Tonleiter in gleichschwebend temperirten Intervallen zu spielen. Mir ist es bis jetzt nicht gelungen, diese Aufgabe mit einiger Sicherheit zu lösen.“
1923, R. Heuler: „ Singen a capella nach genau temperierter Stimmung ist ein Ding der Unmöglichkeit.“
1942 schreibt der berühmte Orgelbauer Oskar Walcker: „Nebenbei: wie wundervoll ist ein reingestimmter Septimenakkord und wie scheußlich klingt daneben der temperierte.“
1971 ergab die mit einem elektronischen Stimmgerät durchgeführte Überprüfung der neuen Walcker Orgel in der Mathäuskirche zu Braunschweig Abweichungen bis zu 4 Cent gegenüber den temperierten Werten. W. Lottermoser von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt wies bei der Gelegenheit darauf hin, „daß die völlig abweichungsfreie gleichstufige Stimmung musikalisch nicht befriedigt.“

Mit anderen Worten: Die gleichstufige Temperierung ist eine theoretische Fiktion. Wenn man genau überprüft, dann gibt es sie in der Musizierwirklichkeit fast nicht.
Damit erledigt sich auch die Geschmacksfrage von selbst, denn was gar nicht da ist, kann man auch nicht schmecken.
Daß Bach selbst gleichstufig temperiert gespielt und komponiert hätte, wird zwar häufig vorgetragen, stimmt aber ganz und gar nicht, wie sich auch aus folgenden Sätzen von Bach selbst ergibt:

„Der Generalbaß ist das vollkommenste Fundament der Music welcher mit beyden Händen gespielet wird dergestalt das die lincke Hand die vorgeschriebenen Noten spielet die rechte aber Con- und Dissonantien darzu greift damit dieses eine wohlklingende Harmonie gebe zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüths und soll, wie aller Music, also auch des Generalbasses Finis und End Uhrsache anders nicht als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths sein. Wo dieses nicht in Acht genommen wird da ists keine eigentliche Music sondern ein Teuflisches Geplerr und Geleyer.“ (J. S. Bach, 1738).
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 16. Apr 2006 00:13    Titel: Antworten mit Zitat

Pyramide:
Die Herleitung des Wertes bei der Cheopspyramide hat Kracke etwas anders vorgenommen. Mir sind diese Gleichungen zu schwierig. Deshalb hatte ich auf Krackes Buch verwiesen, „eines der glänzendsten, witzigsten und gescheitesten Bücher“ - laut Stuttgarter Zeitung; der Meinung konnte ich mich anschließen. Gast suche mal in den Netzantiquariaten nach diesem wundervollen Taschenbüchlein, rate ich.

Andere Länder, andere Töne, - besser vielleicht andere Völker, andere Musik. Denn die Töne absolut gesetzt, dürften oft nicht von unseren abweichen. Die Menschen anderer Völker kennen meist auch das Intervall der Qinte, da sie keine anderen Ohren haben als wir. Es kommt ganz darauf an, in welche anderen Zusammenhänge hinein die Quinte oder ein anderes Intervall gestellt sind.
So gibt es den Effekt, daß, wenn man in unserer harmonischen Stimmung der Tonleiter nur einen einzigen Ton anders stimmt, die ganze Leiter wie indisch oder chinesisch klingen kann.
Es kommt in erster Linie an auf die Beziehungen der Intervalle untereinander, auf die Relationen im Tongefüge, nicht so sehr auf die absoluten Töne bzw. Intervalle selbst
Gast






Beitrag Gast Verfasst am: 16. Apr 2006 15:37    Titel: Antworten mit Zitat

> Mir sind diese Gleichungen zu schwierig.

Was man nicht versteht ist nicht deshalb allein schon richtig. Ich wäre auch mit der Idee hinter den schwierigen Gleichungen zufrieden, ganz ohne Details. Was ich bisher dazu gefunden habe würde ich eher als mathematische Sophistik bezeichnen. Foltert man die Zahlen lang genug, dann gestehen sie alles was man ihnen vorwirft...

Man kann z.B. die Pyramiden-Elle mit Phi^2/5 = (Phi + 1)/5 Meter annehmen um damit die Abmessungen zu berechnen, aber ist das wirklich begründet? Alle Ansätze die mit absoluten Maßen spielen erscheinen mir willkürlich, weil diese einfach nicht greifbar sind. Geht es aber nur um Relationen dann ist die Sache klarer.

> Die Menschen anderer Völker kennen meist auch das Intervall der Qinte, da sie keine anderen Ohren haben als wir.

Gibt es denn einen objektiven Zusammenhang zwischen dem Gehör ('Ohren') und dem Klangempfinden? Die einzige mir bekannte physikalische Beschreibung unharmonischer Tonkombinationen ist, dass ihre Obertonspektren 'unähnlich' seien. Weil das Gehör nicht linear ist kann es auch dazu kommen, dass im Original nicht vorhandene Frequenzen erzeugt werden. Vielleicht führen diese Zusammenhänge zur Präferenz ganzzahliger Verhältnisse?
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 16. Apr 2006 19:53    Titel: Kracke Antworten mit Zitat

> Ich wäre auch mit der Idee hinter den schwierigen Gleichungen zufrieden, ganz ohne Details. <
So schreibe ich denn Krackes Weg auf.
„Der Inhalt J einer (ein gleichschenkliges Dreieck mit der Grundlinie b und der Höhe s bildenden) Seitenfläche ist gleich bs/2. (Abb. b). Die Strecke s kann man (nach dem Pythagoras, Abb. a und c) aus der Gleichung s² = h² + b²/4 bestimmen.

J = bs/2, s = Wurzel aus ( h² + b²/4) , J = b/2 Wurzel aus ( h² + b²/4).

Nach Herodot soll J = h² sein. Dadurch bekommen wir die Bestimmungsgleichung

J = bs/2 = b/2 Wurzel aus (h² + b²/4) = h².

Daraus berechnen wir den Wert von 2b/h.“

Es folgen dann fünf Gleichungen, die ich so gut es geht - weiß nicht, wie man hier Wurzelzeichen eintippen kann - der Reihe nach hinschreibe.

(1) b²/4 (h² + b²/4) = h hoch 4;

(2) h hoch 4 minus b²/4 h² minus b hoch 4/16 = 0;

(3) h² = b²/8 + Wurzel aus (b hoch 4/64 + b hoch 4/16) = b²/8 (1 + Wurzel aus 5);

(4) 4b²/ h² = 32 / (1 + Wurzel aus 5);

(5) 2b/h = Wurzel aus (32 / (1 + Wurzel aus 5);

= ungefähr Wurzel aus (32 / 3,23607) = 3,1446...

„Es ergeben sich also auf Grund der Herodotschen Angaben Werte für b und h, die, wenn man den halben Pyramidenumfang 2b durch die Höhe h teilt, eine Zahl liefern, welche bis zur zweiten – nur bis zur zweiten! – Stelle nach dem Komma mit dem Wert von Pi übereinstimmt (übereinstimmen kann).“ –
So weit Kracke. Ich nehme an, Gast als Mathematiker kann mit den Angaben sicher leicht etwas anfangen und überprüfen, ob die Rechnung stimmt?
Der Übergang zu h hoch 4 und das folgende Gleichsetzen mit 0 erinnert mich dunkel an Vieta, - weiß aber nicht mehr, wie der Formalismus im einzelnen funktioniert.

> dass im Original nicht vorhandene Frequenzen erzeugt werden. <
Das macht das Ohr wohl immer. Gibt man einen obertonreichen Klang auf das Ohr, zerlegt es ihn in einzelne Teilschwingungen, gibt man aber einen obertonfreien Sinuston auf das Ohr, dann reichert es ihn mit Obertönen an. Das Ohr bildet ferner Summationstöne, Differenztöne, die Kombinationstöne.
Es gibt Obertöne, Untertöne; Kombinationstöne, Differenztöne, Ohrobertöne, usw. usw.
Ich hatte schon ein Standardwerk zitiert, Vogel, Die Lehre von den Tonbeziehungen.
Da erhält man einen Überblick über die akustischen Erscheinungen, über ihre Entdeckungen in der Geschichte usw. auf den ersten sechzig Seiten etwa. Das ganze Buch hat 480 Seiten, die ich nun seit über zehn Jahren studiere.Es enthält indes genügend Stoff für weitere zehn Jahre, wie gesagt, ein Standardwerk fürs ganze Leben.



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Gast






Beitrag Gast Verfasst am: 17. Apr 2006 02:49    Titel: Antworten mit Zitat

Herzlichen Dank für die Mühe.

Krackes Ansatz entspricht genau dem was ich bereits beschrieben und kommentiert hatte.

Ich bin übrigens weder Mathematiker noch Physiker, ich betreibe dies aus Interesse an
objektiver Realität und zugleich als willkommenen geistigen 'Kalkstopper'.
Opa



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Beitrag Opa Verfasst am: 17. Apr 2006 14:58    Titel: objektive Realitäten Antworten mit Zitat

Nun waren wir durch Pyramiden und Musik weit von den Themen Trägheit, Fallversuche zum Nachweis der Erdumdrehung abgekommen. Der Zufall will es, daß wir durch eine Netzseite über einen pseudomusikalischen Fallversuch zurückkehren können.
Auf der Netzseite http://theory.gsi.de/~vanhees/faq/roterde/node3.html findet man:
„Es ist vielleicht nicht uninteressant zu wissen, wie Galilei, der ja bekanntlich das Gesetz vom freien Fall sehr genau studiert hat, das Problem der Zeitmessung bewältigt hat. Dabei kam ihm zu Hilfe, daß er ein ausgezeichneter Musiker war, der viel vom genauen Takthalten verstanden hat. Er spannte nun Saiten auf und betrachtete statt des freien Falls das Rolle von Kugeln von einer schiefen Ebene, wobei die Kugeln entlang den Saiten gerollt sind. Nun variierte er den Abstand der Saiten so lange, bis sie in regelmäßigen Abständen ertönten. Dann konnte er in aller Ruhe die Gesetzmäßigkeit der Abstände ausmessen (hier kommen natürlich wieder die Längenmaßstäbe ins Spiel, die wir ja oben schon als gegeben postuliert haben), d.h. er hatte eine Uhr in seinem natürlichen Taktempfinden.
Galilei konnte auf diese Art recht präzise die quadratische Abhängigkeit des Fallweges von der Zeit nachweisen, d.h. der fallende Körper wurde gleichmäßig beschleunigt.“

Das alles ist schlicht erlogen.
(Und natürlich auf Steuerzahlers Kosten, denn die GSI wird nach eigenen Angaben mit 70 Millionen pro Jahr aus Bundes- und Landesmitteln finanziert).

Der ausgezeichnete Musiker war nicht Galileo Galilei, sondern Vincenzo Galilei, der Vater des Galileo. Kepler nahm Vincenzos Buch Dialogo della musica antica et della moderna, Florenz 1581, als Reiselektüre mit, als er in seine evangelische, vom Hexenwahn befallene Heimat reisen mußte, um seine als Hexe angeklagte Mutter zu retten.
Vincenzo schlug vor, eine Lautenseite in 12 gleich große Halbtöne von der Größe 18/17 einzuteilen. Jeder Halbton hätte dann rund 99 Cent, fast die „temperierte Stimmung“, ganz ohne 12. Wurzel 2.
Kepler indes übernahm diesen Vorschlag nicht. Sondern er hat in seinem Hauptwerk Harmonices Mvndi die harmonische Stimmung in den Grundtönen mit den Intervallen 9/8 (großer Ganzton), 10/9 (kleiner Ganzton), zusammen die reine Terz 5/4, Halbton 16/15, macht zusammen die erste Quarte 4/3.
In unseren heutigem C-Dur wären das die Töne C – D – E – F. Dann folgt ein großer Ganzton 9/8 bis zur Quinte 3/2 (G), und anschließend in der zweiten Quarte G bis C nun zuerst der kleine Ganzton 10/9 vor dem großen 9/8 und zuletzt wieder der Halbton 16/15. Das stimmt soweit vollkommen überein mit der Stimmung Bachs. Lediglich bei den Halbtönen gibt es kleine Unterschiede zwischen Kepler und Bach.

Zweitens rollten bei Galilei keine Kugeln an Saiten entlang. Sein berühmter Fallversuch verlief vollkommen „unmusikalisch“.
Drittens verließ sich Galileo nicht auf ein „natürliches Taktempfinden“ (das vielleicht sein Vater Vincenzo hatte) als Uhr. Sondern Galileo ließ sich zur Messung der Zeit etwas einfallen, auf das so leicht nicht jeder heute mehr kommt.

Galileo schreibt:
„...auf einem Holzbrette von 12 Ellen Länge, bei einer halben Elle Breite und drei Zoll Dicke, war auf dieser letzten schmalen Seite eine Rinne von etwas mehr als einem Zoll Breite eingegraben. Dieselbe war sehr gerade gezogen, und um die Fläche recht glatt zu haben, war inwendig ein sehr glattes und reines Pergament aufgeklebt; in dieser Rinne liess man eine sehr harte, völlig runde und glattpolirte Messingkugel laufen. Nach Aufstellung des Brettes wurde dasselbe einerseits gehoben, bald eine, bald zwei Ellen hoch; dann liess man die Kugel durch den Kanal fallen und verzeichnete in sogleich zu beschreibender Weise die Fallzeit für die ganze Strecke: häufig wiederholten wir den einzelnen Versuch, zur genaueren Ermittelung der Zeit, und fanden gar keine Unterschiede, auch nicht einmal von einem Zehntheil eines Pulsschlages.
Darauf liessen wir die Kugel nur durch ein Viertel der Strecke laufen, und fanden stets die halbe Fallzeit gegen früher. Dann wählten wir andere Strecken, und verglichen die gemessene Fallzeit mit der zuletzt erhaltenen und mit denen von 2/3 oder 3/4 oder irgend anderen Bruchtheilen; bei wohl hundertfacher Wiederholung fanden wir stets, daß die Strecken sich verhielten wie die Quadrate der Zeiten: und dieses zwar für jedwede Neigung der Ebene, d. h. des Kanales, in dem die Kugel lief.

Zur Ausmessung der Zeit stellten wir einen Eimer voll Wasser auf, in dessen Boden ein enger Kanal angebracht war, durch den ein feiner Wasserstrahl sich ergoß, der mit einem kleinen Becher aufgefangen wurde, während einer jeden beobachteten Fallzeit: das dieser Art aufgesammelte Wasser wurde auf einer sehr genauen Waage gewogen; aus den Differenzen der Wägungen erhielten wir die Verhältnisse der Gewichte und die Verhältnisse der Zeiten, und zwar mit solcher Genauigkeit, daß die zahlreichen Beobachtungen niemals merklich (di un notabile momento) von einander abwichen.“

Simpl. „Wie gern hätte ich diesen Versuchen beigewohnt; aber da ich von Eurer Sorgfalt und Eurer wahrheitsgetreuen Wiedergabe überzeugt bin, beruhige ich mich und nehme dieselben als völlig sicher und wahr an.“
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