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Schrödinger Zitat kurz vor seinem Tod - Seite 2
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index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
Beiträge: 3259

Beitrag index_razor Verfasst am: 02. Sep 2020 12:55    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Bei der Voraussetzung, dass sich physikalisch formulierte Naturgesetze auf die physikalisch erfassbare Natur beziehen und diese umfassend beschreiben - was den Gegenstand der Untersuchung implizit dahingehend einengt, dass es sich gerade um das handelt, was der physikalischen Methode zugänglich ist - habe ich keine Bedenken.

Aber bei der Voraussetzung, dass dies auch für mentale Prozesse gelten soll, habe ich Probleme, da hier keine Einengung auf die der physikalische Methode zugänglichen Vorgänge erfolgt, sondern die implizite Annahme, dass diese Methode auf mentale Vorgänge ausgeweitet werden kann.


Gut formuliert. Aber genau diese Unterscheidung bestreite ich. In Wahrheit geht es hier nicht um die Ausdehnung oder Einengung einer Methode, sondern lediglich darum, wie erfolgreich diese Methode auf den jeweiligen Gebieten bereits war.

Wir haben zum Beispiel keine erfolgreiche Vereinigung von Quantentheorie und Gravitation. Ist es nun philosophisch "problematisch" anzunehmen, daß die Methoden der Physik auch auf Prozesse der Quantengravitation ausgedehnt werden können? Wir haben keinen Beweis dafür, das dies klappen wird, allerdings auch keine Alternative. Es bringt nichts zu behaupten Quantengravitation sei ein Phänomen, das der naturwissenschaftlichen Methode prinzipiell unzugänglich ist. Nicht anders verhält es sich bei der Erklärung von Bewußtsein. Daß es offene Probleme und unerklärte Phänomene gibt, ist keine Frage.

Aber wie bei jedem Problem werden wir erst wissen, ob wir es lösen können, wenn wir die Lösung kennen. Solange müssen wir uns derjenigen Methoden bedienen, die uns zur Verfügung stehen.

Zitat:

Man kann diese Annahme treffen, aber man muss das explizit tun und sich darüber Rechenschaft ablegen.

Machen wir das doch mal explizit.

Mittels physikalischer Theorien lässt sich zeigen, dass sich alle elektromagnetische Wellenfronten nicht schneller als c ausbreiten. In den bisher durchgeführten Experimenten erfolgte keine Beobachtung, die diese Theorien widerlegt.

???. Aus den bisher durchgeführten Experimenten folgt die Beobachtung, dass allen Bewusstseinszuständen bestimmte unbewusste Prozesse zeitlich in systematischer Weise vorausgehen.

Im ersten Fall beziehen sich alle Begriffe und Aussagen auf einen gemeinsamen Kontext, nämlich die mittels der physikalischen Methode zugänglichen Natur.

Im zweiten Fall fehlt zunächst das ???.


Das läuft auf nichts anderes hinaus, als die Feststellung, daß die Theorie des Elektromagnetismus weit vollständiger ist, als die Theorie des Geistes. Das ist natürlich richtig.

Ich ging davon aus, daß im Kontext der Aussage, den ich nicht kenne, hinreichend klar definiert ist, wie man das Vorhandensein eines bestimmten "Bewußtseinszustands" und eines "unbewußten Prozesses" experimentell feststellt. Dann reicht eine sehr primitive Aussage der Form "Wenn unbewußter Prozeß X stattfindet, dann folgt Bewußtseinszustand f(X) nicht eher als 200 ms später." vollkommen aus, um Popper zufrieden zu stellen.

Zitat:

Wir haben dazu nichts - außer der Annahme, dass dies alles "irgendwie physikalisch wäre". Dann bezieht sich der Begriff Bewusstseinszustände zunächst nicht auf den physikalischen sondern auf den mentalen Kontext. Ich kenne zumindest keine physikalische Theorie, die diesen Begriff auch nur ansatzweise definieren würde, lediglich die Annahme beide Kontexte seien identisch - was dennoch keine Definition meiner Bewusstseinszustände wie zum Beispiel "Ärger" liefert.


Ich vermute "Bewußtseinszustand" bezieht sich auf eine Klasse von physikalischen Zuständen im Gehirn,mit speziellen Eigenschaften, z.B. mit der Neigung des Individuums einherzugehen, bestimmte Empfindungen und Ansichten zu äußern (unwillkürliche Äußerungen mit eingeschlossen). Ob das tatsächlich der Begriff ist, den Roth verwendet, weiß ich natürlich nicht. Aber ich denke es wäre einer, den ich für unproblematisch hielte.

Zitat:

Wir wissen in der Physik, wie kompliziert es ist, den Atomkern auf Basis der QCD zu verstehen; aber die Neurobiologie versteht angeblich "Ärger" auf Basis von Nervenimpulsen - phantastisch.


Trotzdem erklärst du die Annahme, aus der QCD (und QED) folgen alle (wesentlichen) Eigenschaften des Atomkerns nicht zur Hybris. Oder doch?

Und wer behauptet wir verstünden Ärger auf Basis von Nervenimpulsen? Ich kann mir vorstellen, daß wir einige Aspekte von Ärger auf Basis von Nervenimpulsen verstehen, wie vielleicht den Anstieg des Blutdrucks o.ä. Aber genauso verstehen wir auch nur einige Apsekte von Atomkernen auf Basis der QCD. In beiden Fällen besteht kein Anlaß zum Zweifel daran, daß es möglich ist, alle Aspekte der jeweiligen Phänomene auf Basis von Nervenimpulsen bzw. der QCD zu verstehen. Auch wenn dies jeweils noch nicht der Fall ist.

Zitat:

Dann schauen wir uns doch mal die sogenannten Libet-Experimente (nach Libet et al.) an, auf die sich Roth bezieht.

Zum ersten sind diese höchst umstritten. Zum zweiten sind es allenfalls einige wenige Indizien für die o.g. Meinung.


Dazu kann ich mangels Kenntnissen wiederum nichts sagen. Ich akzeptiere daher zum Zwecke der Diskussion deine Behauptung, daß die Aussage von Roth in dieser Hinsicht nicht gerechtfertigt ist.

Zitat:

Zum dritten steckt ein methodischer Fehler in der Argumentation, denn die Experimente müssen sich notwendigerweise auf physikalisch messbare oder anderweitig beobachtbare Akte beziehen, d.h. sie blenden alle mentalen Zustände aus, die nicht zu unmittelbar oder eindeutig definierten Akten führen.


Warum sind die ausgeschlossen? Viele physikalische Größen sind ebenfalls nur sehr mittelbar zu beobachten. Trotzdem verbieten wir nicht prinzipiell Allaussagen, die solche Größen einschließen. Und wenn sie zu nicht eindeutig definierten Akten führen, dann muß man nach weiteren Ursachen suchen bis es hinreichend eindeutig wird.

Zitat:

Im Libet-Experiment geht es um den freien Willen, Knöpfchen zu drücken oder nicht zu drücken; meine wesentlichen mentalen Vorgänge und Willensentscheidungen handeln von anderen Dingen: heirate ich diese Frau? was wähle ich bei der nächsten Bundestagswahl? möchte ich zukünftig umweltbewusster leben? was empfinde ich bei dem Film "Alien" und warum fasziniert er mich?


Na und? Das sind trotzdem alles mentale Akte, die zu beobachtbarem Verhalten führen.

Zitat:

Roth behauptet, man könne zeigen, dass allen Bewusstseinszuständen - also wohl auch den von mir genannten - unbewusste Prozesse in systematischer Weise vorhergehen.

Das ist für mich nicht empirische Wissenschaft in bester Popperscher Tradition, sondern so ziemlich das exakte Gegenteil: implizite Annahmen, methodische Schwächen, Dogmatik gepaart mit Hybris.


Ich nehme mal an, er meint, man kann es zeigen auf Basis von Annahmen, die bis jetzt nicht experimentell widerlegt sind. Solche Annahmen extrapoliert man eben auf alle Fälle, bis man auf Probleme stößt. Du nennst das Hybris, aber es ist genau die Methode die Popper empfiehlt. Ich glaube er würde es eher als das Aufstellen von möglichst "gewagten", "mutigen" o.ä. Hypothesen bezeichnen. Das ist vollkommen konsistent mit seinem Abgrenzungkriterium. Denn je gewagter die Hypothese, desto leichter ist sie zu falsifizieren.

Das funktioniert im Beispiel von Roths Aussage natürlich nur, wenn unstrittig ist, wie man das Vorliegen bestimmter Bewußsteinszutsände und der ihnen vorausgehenden unbewußten Prozesse feststellt. Daran gibt es möglicherweise einiges zu kritisieren (wie gesagt, kenne ich mich da zu wenig aus). Aber wenn du darauf hinauswolltest, setzt setzt deine Kritik m.E. an der faschen Stelle an. Es geht nicht um einen vermeintlichen Unterschied zwischen "mental" und "physisch", sondern nur darum, daß die theoretischen Begriffe wie "Bewußtseinszustand" einen zu unklaren Bezug zur Beobachtung haben. Ich denke allerdings, daß dies ein prinzipiell lösbares Problem ist. (siehe oben)

Zitat:

Wichtig: als Naturwissenschaftler teile ich die Annahme von Roth; aber ich bin mir explizit bewusst, dass sie möglicherweise der naturwissenschaftlichen Methode nicht zugänglich ist - genauso wie die Annahme einer vom Leib unabhängigen Seele.


Dasselbe kannst du für jedes nicht vollständig verstandene Phänomen behaupten. Also vermutlich für fast alles. Woher sollen wir wissen, daß es der naturwissenschaftlichen Methode zugänglich ist, bevor wir es erfolgreich mit der naturwissenschaftlichen Methode behandelt haben? Ich finde das relativiert diesen Einwand erheblich.


Zuletzt bearbeitet von index_razor am 02. Sep 2020 16:02, insgesamt 3-mal bearbeitet
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 17900

Beitrag TomS Verfasst am: 02. Sep 2020 13:01    Titel: Antworten mit Zitat

EDIT - Ich hatte deinen zweiten Beitrag noch nicht gelesen. Evtl. überschneidet sich da einiges.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Und damit die Naturwissenschaften überhaupt vernünftig arbeiten können, müssen sie annehmen, dass kein Substanzdualismus vorliegt, dass also mentale Phänomene lediglich Epiphänomene sind und dass die Wirkung von der materiellen auf die mentale Welt u.u. durch die vorausgesetzte Identifizierung beider vermöge rein biochemischer und damit letztlich physikalisch erklärbarer Prozesse innerhalb der materiellen Welt vonstatten geht.

Das Problem mit dieser Annahme ist, dass sie nicht wirklich testbar ist.


Du erklärst ihre Grundannahme zum Problem und schließt gleichzeitig aus, daß sie irgendeine Möglichkeit haben, diesem Problem zu entgehen, außer Aufgeben und gar nichts zu tun.

Nein, letzteres behaupte ich nicht!

Es mag durchaus Möglichkeiten geben, das Problem der Grundannahmen zu verstehen und teilweise zu lösen. Aber dazu muss man sich dieses Problem explizit bewusst machen.

[Bsp. Quantenmechanik: Fortschritte bzgl. des grundlegenden Verständnisses scheiterten nicht an den Grundannahmen selbst, sondern am Bohrschen Verbot der Diskussion dieser Grundannahmen. Kaum hielt man sich nicht mehr daran - EPR, de Broglie, Bohm, Everett, Bell ... - wurden weitergehende Einsichten erzielt. Aus Kopenhagen wurde Bells Idee sowie erste Ansätze zu experimentellen Tests letztlich als Blödsinn diskreditiert, die Leute hätten die Quantenmechanik schlicht nicht verstanden.]

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Hast du dieselben Ansprüche an Physik? Sagen wir ab heute: "Wellenfronten breiten sich nicht schneller als Lichtgeschwindigkeit aus, es sei denn es geschieht ein Wunder"?

Nein, das sagen wir nicht, aber wir sind uns dessen bewusst.

Und wie mein Vergleich oben zeigt, ist die Annahme weit weniger kritisch:

Physik befasst sich mit dem, wozu Physik methodisch in der Lage ist; kaum ein Physiker glaubt ernsthaft, etwas zum Thema „Geist“ beitragen zu können. Neurobiologie befasst sich zunächst mit der Biologie von Neuronen. Auf einmal glauben jedoch einige Neurobiologen, sie könnten nicht nur Erkenntnisse zum Gehirn als materiellen Substrat für „Geist“ beitragen - was zweifelsohne richtig ist - sondern den „Geist“ selbst vollständig erklären - was absurd ist.

Egal welche Ergebnisse die Neurobiologie und verwandte Wissenschaften noch zu Tage fördern werden: kein noch so präzises Experiment kann beweisen, dass aus der Identität oder Äquivalenz physikalischer Prozesse in meinem und einem anderen Gehirn / einer KI / ... logisch folgt, dass dieses andere Gehirn / die KI den selben Bewusstseinszustand hat wie ich.

Letztlich liegt ein dummer logischer Zirkelschluss vor, denn „Bewusstsein“ bleibt entweder undefiniert, dann folgt nichts; oder Bewusstsein wird reduktionistisch definiert als physikalischer Prozesse, dann folgt rein logisch die Äquivalenz der physikalischen Prozesse, also die getroffene Annahme.

Einfache Frage zum Abschluss: wie testest du wissenschaftlich im Popperschen Sinne, dass eine KI sich beim Lesen eines Textes ärgert?

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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.
index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
Beiträge: 3259

Beitrag index_razor Verfasst am: 02. Sep 2020 18:40    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
EDIT - Ich hatte deinen zweiten Beitrag noch nicht gelesen. Evtl. überschneidet sich da einiges.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Und damit die Naturwissenschaften überhaupt vernünftig arbeiten können, müssen sie annehmen, dass kein Substanzdualismus vorliegt, dass also mentale Phänomene lediglich Epiphänomene sind und dass die Wirkung von der materiellen auf die mentale Welt u.u. durch die vorausgesetzte Identifizierung beider vermöge rein biochemischer und damit letztlich physikalisch erklärbarer Prozesse innerhalb der materiellen Welt vonstatten geht.

Das Problem mit dieser Annahme ist, dass sie nicht wirklich testbar ist.


Du erklärst ihre Grundannahme zum Problem und schließt gleichzeitig aus, daß sie irgendeine Möglichkeit haben, diesem Problem zu entgehen, außer Aufgeben und gar nichts zu tun.

Nein, letzteres behaupte ich nicht!


Ich bezog mich auf den allerersten Satz in dem Zitat von dir: "Und damit die Naturwissenschaften überhaupt vernünftig arbeiten können, müssen sie annehmen, dass kein Substanzdualismus vorliegt..." etc.

Also müssen sie es annehmen oder sie arbeiten nicht vernünftig. Und wenn sie es annehmen, ist es problematisch. Das läßt wenig Optionen offen.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Hast du dieselben Ansprüche an Physik? Sagen wir ab heute: "Wellenfronten breiten sich nicht schneller als Lichtgeschwindigkeit aus, es sei denn es geschieht ein Wunder"?

Nein, das sagen wir nicht, aber wir sind uns dessen bewusst.

Und wie mein Vergleich oben zeigt, ist die Annahme weit weniger kritisch:

Physik befasst sich mit dem, wozu Physik methodisch in der Lage ist; kaum ein Physiker glaubt ernsthaft, etwas zum Thema „Geist“ beitragen zu können.


Ich glaube du vermischt hier die Frage nach der Methodik mit der Frage des Untersuchungsgegenstands. Ein Physiker beschränkt seine Untersuchung normalerweise auf Systeme, die relativ einfach sind, viel zu einfach um etwas wie Geist hervorzubringen. Das ist aber keine methodische Einschränkung, sondern eine in der Auswahl der Problemstellungen.

Die grundlegende Methodik unterscheidet sich jedoch nicht groß zwischen den Wissenschaften: Theorien mit abstrakten Konzepten und logischen Beziehungen zu Beobachtungsaussagen werden aufgestellt und revidiert, wenn es an den empirischen Checkpunkten zu Problemen kommt. Die wichtigste methodologische Festsetzung ist, möglichst viele unabhängige solcher Checkpunkte einzubauen. Diese Methodik ist so allgemein, daß es kaum einleuchtet, daß gerade das Phänomen Bewußstein damit nicht zu behandeln sein sollte.

Zitat:

Neurobiologie befasst sich zunächst mit der Biologie von Neuronen. Auf einmal glauben jedoch einige Neurobiologen, sie könnten nicht nur Erkenntnisse zum Gehirn als materiellen Substrat für „Geist“ beitragen - was zweifelsohne richtig ist - sondern den „Geist“ selbst vollständig erklären - was absurd ist.


Behaupten sie, daß sie es bereits könnten oder nur, daß dies prinzipiell ohne "Wonder Tissue" möglich ist?

Zitat:

Egal welche Ergebnisse die Neurobiologie und verwandte Wissenschaften noch zu Tage fördern werden: kein noch so präzises Experiment kann beweisen, dass aus der Identität oder Äquivalenz physikalischer Prozesse in meinem und einem anderen Gehirn / einer KI / ... logisch folgt, dass dieses andere Gehirn / die KI den selben Bewusstseinszustand hat wie ich.


Es ist auch nicht nötig dies zu beweisen. Dein Ärger kann durchaus etwas anderes sein, als mein Ärger. Trotzdem ist es möglich, daß beide Ärger vollständig auf physikalische Eigenschaften unserer jeweiligen Hirne zurückzuführen sind.

Letztlich ist die Folge dieses Reduktionismus ja sogar, daß es mentale Zustände wie Ärger gar nicht gibt. Es sind lediglich abstrakte Eigenschaften grundlegender physikalischer Prozesse. Es gibt nur die Materie, die diese Prozesse durchläuft. Damit ist die Frage, ob Ärger1=Ärger2 ist, sinnlos.

Deswegen ist es natürlich noch nicht sinnlos zu behaupten, daß sich jemand "real" ärgert. Es handelt sich lediglich um eine sehr abstrakte Beschreibung der in Wahrheit viel komplizierteren Realität. (Solche abstrakten Beschreibungen können durchaus erfolgreicher sein, als die Berücksichtigung aller Details, siehe z.B. Thermodynamik als Analogie).

Zitat:

Letztlich liegt ein dummer logischer Zirkelschluss vor, denn „Bewusstsein“ bleibt entweder undefiniert, dann folgt nichts; oder Bewusstsein wird reduktionistisch definiert als physikalischer Prozesse, dann folgt rein logisch die Äquivalenz der physikalischen Prozesse, also die getroffene Annahme.


Es gibt noch eine andere Möglichkeit: Wir definieren Bewußstein zunächst rein phänomenologisch, als Ursache (oder Disposition) für bestimmte Verhaltensweisen, die wir an uns und anderen wahrnehmen. Zum Beispiel:
jemand läuft rot an und schreit rum, weil er sich ärgert.

In der Naturwissenschaft müssen auch nicht alle hypothetischen Ursachen direkt beobachtbar sein. Es reicht, daß man ihre Effekte (in diesem Fall das Verhalten) beobachten kann und daß sie korrekt vorhergesagt werden können. Das ist hier sicher möglich: wir machen dauernd und ohne große Anstrengung korrekte Verhaltensprognosen über Mitmenschen auf Basis von nicht mehr als unterstellten Motiven und Ansichten. Dies sind die mutmaßlichen Inhalte des Bewußsteins und zugleich die Ursachen für das Verhalten, was wir beobachten.

Die Reduktion dieser Ursachen auf konkrete physikalische Prozesse, die dieselben Effekte (Verhalten) zur Folge haben, ist damit ein wohldefiniertes wissenschaftliches Programm und kein Zirkelschluß.

Zitat:

Einfache Frage zum Abschluss: wie testest du wissenschaftlich im Popperschen Sinne, dass eine KI sich beim Lesen eines Textes ärgert?


So, wie bei einer natürlichen Intelligenz. Also mit einer Art emotionalem Turing-Test. Ich denke dieser Methode sind keine prinzipiellen Grenzen gesetzt, abgesehen von den Ausdrucksmöglichkeiten der KI und ihren Fähigkeiten ihre eigenen internen Zustände wahrzunehmen und zu reflektieren. Das sind wiederum dieselben Grenzen, wie bei natürlichen Intelligenzen. Vermutlich hängt von der Ausprägung derartiger Fähigkeiten auch der Grad von Bewußtsein ("Bewußtheit") ab, den die KI besitzt.
Qubit



Anmeldungsdatum: 17.10.2019
Beiträge: 824

Beitrag Qubit Verfasst am: 02. Sep 2020 20:26    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Die Reduktion dieser Ursachen auf konkrete physikalische Prozesse, die dieselben Effekte (Verhalten) zur Folge haben, ist damit ein wohldefiniertes wissenschaftliches Programm und kein Zirkelschluß.


Aber ein solches Programm der Reduktion auf physikalisch (chemisch, biologische) Prozesse betrachtet ausdrücklich keine psychischen Prozesse als eigene Entitäten der Natur, es korreliert bestenfalls psychische Zustände mit physischen. Es beschreibt diese als Epiphänomene, experimentell vielleicht begründet durch behavioristische Analogieschlüsse.
Damit wird eben auch ausgeschlossen, dass psychische Prozesse sich kausal auf physische auswirken. Dem widerspricht aber die eigene Erfahrung bewusster Vorstellungen.
Wenn du zB. die Absicht hast, hier etwas zu schreiben, organisiert dann dein mentaler Zustand materielle Vorgänge (deinen Körper, deinen Computer, etc.) oder sind es einfach reine biochemische Reaktionen deines Gehirns, die in dir dann diesen bewussten Gedanken als reines Epiphänomen erzeugen? Denke, deine persönliche Erfahrung dieser Realität entspricht auch ersterem.
Mit den (bisherigen) physikalischen Entitäten alleine wird man dies nicht hinreichend beschreiben können. Jedenfalls sind mir keine "psychischen" Terme physikalischer Gleichungen bekannt. smile
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 17900

Beitrag TomS Verfasst am: 02. Sep 2020 23:16    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ein Physiker beschränkt seine Untersuchung normalerweise auf Systeme, die relativ einfach sind, viel zu einfach um etwas wie Geist hervorzubringen. Das ist aber keine methodische Einschränkung, sondern eine in der Auswahl der Problemstellungen.

Das ist in etwa so, wie wenn du als Physiker behauptest, die Festkörperphysik vollumfänglich auf Atomphysik / Quantenmechanik zurückführen zu können, bisher jedoch lediglich die Schrödingergleichung für das Wasserstoffatom gelöst hast (und das seit Jahrzehnten, während der du beharrlich bei deiner Behauptung bleibst).

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Diese Methodik ist so allgemein, daß es kaum einleuchtet, daß gerade das Phänomen Bewußstein damit nicht zu behandeln sein sollte.

Dann wundert es mich, dass man da keine Fortschritte macht.

Ich denke, man stellt die falschen Fragen, bzw. man stellt nicht die kritischen Fragen bzgl. des eigenen Programms (vielleicht sollten die Neurobiologen mal mit den Stringtheoretikern tauschen ;-)


index_razor hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Neurobiologie befasst sich zunächst mit der Biologie von Neuronen. Auf einmal glauben jedoch einige Neurobiologen, sie könnten nicht nur Erkenntnisse zum Gehirn als materiellen Substrat für „Geist“ beitragen - was zweifelsohne richtig ist - sondern den „Geist“ selbst vollständig erklären - was absurd ist.

Behaupten sie, daß sie es bereits könnten oder nur, daß dies prinzipiell ohne "Wonder Tissue" möglich ist?

Wenn ich die Aussagen Roths lese, dann ersteres. Es gibt aber auch kritischere Stimmen (wahrscheinlich auch eine Frage der Drittmittel ;-)

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Dein Ärger kann durchaus etwas anderes sein, als mein Ärger. Trotzdem ist es möglich, daß beide Ärger vollständig auf physikalische Eigenschaften unserer jeweiligen Hirne zurückzuführen sind.

Was meinst du mit möglich?

Dass die Welt so beschaffen ist, dass das der Fall sein könnte? Ja, das glaube (sic!) ich.

Dass es prinzipiell mittels einer wissenschaftlichen Theorie möglich ist? Das will ich nicht ausschließen, allerdings existiert keine derartige Theorie, lediglich die Annahme bzw. Behauptung, dies sei möglich.


Vergleiche mal mit der Physik: man kann die Thermodynamik weitgehend auf statistische Mechanik und damit auf Quantenmechanik zurückführen; allerdings lag bereits zu Beginn eine ausgearbeitete physikalische Theorie der Thermodynamik vor, man musste "nur" noch an einer Abbildung der Theorien untereinander arbeiten.

Vergleiche das mit der Neurowissenschaft: wo ist die Theorie der mentalen Zustände, der Willensakte, der Qualia? was ist Angst, Freude, Lust, gelb, süß ...? Wo ist eine theoretische Übersetzung zwischen dieser Theorie und der Neurobiologie? Alles was existiert ist ein Glaubenssatz sowie ein behavioristisches Vorgehen, das den mentalen Zustand "ich habe Hunger und will etwas essen" mit der Aussage "ich habe Hunger und will etwas essen" bzw. mit dem Akt des Essen verwechselt.

Dies ist ein klassischer Kategoriefehler - oder ein metaphysisches Weltbild, das die nicht mehr weiter hinterfragbare Identitäten behauptet.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Es gibt noch eine andere Möglichkeit: Wir definieren Bewußstein zunächst rein phänomenologisch, als Ursache (oder Disposition) für bestimmte Verhaltensweisen, die wir an uns und anderen wahrnehmen.

Das ist gerade der genannte Kategoriefehler bzw. das metaphysisches Weltbild. Man kann das tun, ist dann jedoch nicht mehr in der Lage, bestimmte Fragen zu stellen, z.B. ob Bewusstsein mehr ist als biochemische Prozesse.

Wenn man den Anspruch dergestalt reduziert und diese Einschränkung kommuniziert, dann ist das erst mal OK. Wenn man meint, den Anspruch nicht reduziert zu haben, dann begeht man eine fatalen Fehler.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Die Reduktion dieser Ursachen auf konkrete physikalische Prozesse, die dieselben Effekte (Verhalten) zur Folge haben, ist damit ein wohldefiniertes wissenschaftliches Programm und kein Zirkelschluß.

Es ist zunächst mal ein Programm, das möglicherweise am Kern der Sache vorbeigeht, ohne dies hinterfragen zu können, weil es mentale Zustände ohne direkt sichtbare Effekte vollständig ausklammert.

Es wird dann zum Zirkelschluss, wenn ich anschließend der Meinung bin, das größere Problem gelöst zu haben, obwohl ich nur ein winziges Problem gelöst habe, das genau zu meiner Methode passt.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Einfache Frage zum Abschluss: wie testest du wissenschaftlich im Popperschen Sinne, dass eine KI sich beim Lesen eines Textes ärgert?

So, wie bei einer natürlichen Intelligenz. Also mit einer Art emotionalem Turing-Test.

Der Punkt ist, dass du testen musst, ob die KI sich beim Lesen des Textes ärgert, nicht, ob die KI sich dahingehend äußert, sie würde sich ärgern.

Du steckt in der behavioristischen Falle bzw. hast diesbzgl. eine blinden Fleck (oder du spielst advocatus diaboli, bist dir dessen durchaus bewusst und testest gerade mich ;-)

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index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
Beiträge: 3259

Beitrag index_razor Verfasst am: 03. Sep 2020 09:42    Titel: Antworten mit Zitat

Qubit hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:

Die Reduktion dieser Ursachen auf konkrete physikalische Prozesse, die dieselben Effekte (Verhalten) zur Folge haben, ist damit ein wohldefiniertes wissenschaftliches Programm und kein Zirkelschluß.


Aber ein solches Programm der Reduktion auf physikalisch (chemisch, biologische) Prozesse betrachtet ausdrücklich keine psychischen Prozesse als eigene Entitäten der Natur, es korreliert bestenfalls psychische Zustände mit physischen.


Ich weiß. Ich habe doch auch ausdrücklich so ziemlich dasselbe behauptet. (Ein paar Absätze vor dem, den du zitiert hast.) Das ist übrigens auch der Grund warum die Behauptung, daß mein Ärger derselbe mentale Zustand ist, wie jemandes anderen Ärger, sinnlos ist.

Zitat:

Es beschreibt diese als Epiphänomene, experimentell vielleicht begründet durch behavioristische Analogieschlüsse.
Damit wird eben auch ausgeschlossen, dass psychische Prozesse sich kausal auf physische auswirken. Dem widerspricht aber die eigene Erfahrung bewusster Vorstellungen.


Das wird nicht ausgeschlossen. Wie ich bereits schrieb: "Das ist hier sicher möglich: wir machen dauernd und ohne große Anstrengung korrekte Verhaltensprognosen über Mitmenschen auf Basis von nicht mehr als unterstellten Motiven und Ansichten. Dies sind die mutmaßlichen Inhalte des Bewußsteins und zugleich die Ursachen für das Verhalten, was wir beobachten."

Beobachtbares Verhalten zähle ich zu den "physischen Prozessen". Der Punkt ist lediglich, daß dieser Kausalzusammenhang nur innerhalb einer sehr abstrakten Beschreibung der Realität funktioniert. Wenn ich "beobachtbares Verhalten" als Bewegung von Atomen auffasse, dann komme ich mit Motiven und Ansichten und anderen Bewußtseinsinhalten nicht mehr weit. Auf dieser Detailstufe haben sie sich in Luft aufgelöst.

Dort, wo diese Erklärung funktioniert, benötigen wir aber ebenfalls keine "Entitäten" für Bewußtseinszutsände. Es reicht, daß wir Aussagen wie "Person X will/glaubt/empfindet ..." einen Sinn geben können. Es ist nicht nötig, daß es reale Dinge wie Wünsche, Ansichten oder Empfindungen gibt, die mit Person X irgendeine Relation eingehen.

Zitat:

Wenn du zB. die Absicht hast, hier etwas zu schreiben, organisiert dann dein mentaler Zustand materielle Vorgänge (deinen Körper, deinen Computer, etc.) oder sind es einfach reine biochemische Reaktionen deines Gehirns, die in dir dann diesen bewussten Gedanken als reines Epiphänomen erzeugen?
Denke, deine persönliche Erfahrung dieser Realität entspricht auch ersterem.


Darin liegt auch kein Widerspruch. Reduktionismus bedeutet ja nicht, die Leugnung mentaler Zustände, sondern deren Erklärung mittels grundlegender Prozesse und deren komplexen, dispositionalen Eigenschaften. Daß diese Prozesse "einfacher" sind, als das was sie erklären sollen, ist natürlich ein Klischee. Sie sind komplizierter als alles was wir uns vorstellen können.

Zitat:

Mit den (bisherigen) physikalischen Entitäten alleine wird man dies nicht hinreichend beschreiben können. Jedenfalls sind mir keine "psychischen" Terme physikalischer Gleichungen bekannt.


Du glaubst also tatsächlich, man müsse die Physik revolutionieren um die Psyche zu verstehen? Ich habe dich ja weiter oben gefragt, ob du vorschlägst "Qualia-Terme" in die Lagrangefunktion des Standardmodells einzuführen. Meine Annahme war, daß die Absurdität dieses Vorschlags offensichtlich ist. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob du nicht genau dies vorschlägst.
index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
Beiträge: 3259

Beitrag index_razor Verfasst am: 03. Sep 2020 17:26    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ein Physiker beschränkt seine Untersuchung normalerweise auf Systeme, die relativ einfach sind, viel zu einfach um etwas wie Geist hervorzubringen. Das ist aber keine methodische Einschränkung, sondern eine in der Auswahl der Problemstellungen.

Das ist in etwa so, wie wenn du als Physiker behauptest, die Festkörperphysik vollumfänglich auf Atomphysik / Quantenmechanik zurückführen zu können, bisher jedoch lediglich die Schrödingergleichung für das Wasserstoffatom gelöst hast (und das seit Jahrzehnten, während der du beharrlich bei deiner Behauptung bleibst).


Im Augenblick behaupte ich nur, daß ich kein Wonder Tissue benötige und daß mir die wissenschaftliche Methodik von Hypothesenbildung und Falsifikation ausreicht. Ich behaupte nicht, daß irgendjemand irgendetwas vollumfänglich erklären kann.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Diese Methodik ist so allgemein, daß es kaum einleuchtet, daß gerade das Phänomen Bewußstein damit nicht zu behandeln sein sollte.

Dann wundert es mich, dass man da keine Fortschritte macht.

Ich denke, man stellt die falschen Fragen, bzw. man stellt nicht die kritischen Fragen bzgl. des eigenen Programms (vielleicht sollten die Neurobiologen mal mit den Stringtheoretikern tauschen ;-)


Welche Fortschritte hat man denn mit der Theorie der Qualia gemacht? Danach hast jedenfalls du wiederholt gefragt. Und zu wenige Publikationen scheint es zu dem Thema jedenfalls nicht zu geben.

Der Vergleich mit Stringtheorie ist übrigens ein Eigentor. Wer Stringtheoretiker an die Einhaltung gewisser Standards der wissenschaftlichen Methodik erinnert, wird gern mal als "Popperazzi" verunglimpft. Du machst den Neurobiologen aber anscheinend genau den Vorwurf, daß sie die normale wissenschaftliche Methodik verwenden wollen, obwohl du selbst zugibst, daß sie keine akzeptable Alternative haben.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Neurobiologie befasst sich zunächst mit der Biologie von Neuronen. Auf einmal glauben jedoch einige Neurobiologen, sie könnten nicht nur Erkenntnisse zum Gehirn als materiellen Substrat für „Geist“ beitragen - was zweifelsohne richtig ist - sondern den „Geist“ selbst vollständig erklären - was absurd ist.

Behaupten sie, daß sie es bereits könnten oder nur, daß dies prinzipiell ohne "Wonder Tissue" möglich ist?

Wenn ich die Aussagen Roths lese, dann ersteres. Es gibt aber auch kritischere Stimmen (wahrscheinlich auch eine Frage der Drittmittel ;-)


Drittmittel bekommt man nur für offene Probleme, nicht für solche, die man behauptet schon "vollumfänglich" gelöst zu haben. Aus den Stellen, die du zitiert hast kann ich beim besten Willen auch nicht de Behauptung herauslesen, "den Geist selbst vollständig erklärt" zu haben.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Dein Ärger kann durchaus etwas anderes sein, als mein Ärger. Trotzdem ist es möglich, daß beide Ärger vollständig auf physikalische Eigenschaften unserer jeweiligen Hirne zurückzuführen sind.

Was meinst du mit möglich?

Dass die Welt so beschaffen ist, dass das der Fall sein könnte? Ja, das glaube (sic!) ich.


Was ich meine ist nicht mehr als "No Wonder Tissue allowed."

Zitat:

Dass es prinzipiell mittels einer wissenschaftlichen Theorie möglich ist? Das will ich nicht ausschließen, allerdings existiert keine derartige Theorie, lediglich die Annahme bzw. Behauptung, dies sei möglich.


Doch, es existieren solche Theorien, z.B. Dennetts Multiple Drafts Modell. Natürlich erklärt die Theorie nichts "vollständig". Aber das tut keine Theorie.

Zitat:

Vergleiche mal mit der Physik: man kann die Thermodynamik weitgehend auf statistische Mechanik und damit auf Quantenmechanik zurückführen; allerdings lag bereits zu Beginn eine ausgearbeitete physikalische Theorie der Thermodynamik vor, man musste "nur" noch an einer Abbildung der Theorien untereinander arbeiten.

Vergleiche das mit der Neurowissenschaft: wo ist die Theorie der mentalen Zustände, der Willensakte, der Qualia? was ist Angst, Freude, Lust, gelb, süß ...?


Dennett versucht genau so eine Theorie zu formulieren. Er wird sicher nicht der einzige sein, aber er ist der einzige, dessen Theorie mir bekannt ist. Qualia kommen darin nicht vor, aber er begründet ausführlich, warum nicht.

Zitat:

Wo ist eine theoretische Übersetzung zwischen dieser Theorie und der Neurobiologie?


Biochemische Prozesse erzeugen unterscheidbare Zustände im Gehirn. Diese führen 1) zu Verhaltensdispositionen und 2) zu anderen Zuständen im Gehirn (oder den Dispositionen, solche Zustände einzunehmen, wenn weitere externe Reize eintreffen.)

Eine Klasse (oder Prädikat) dieser Zustände bezeichnen wir als einen bestimmten "mentalen Zustand", z.B. Ärger, wenn jedes seiner Elemente dieselbe Klasse von Verhalten und dieselben weiteren mentalen Zuständen (also eine weitere Klasse unterscheidbarer Hirnzustände) verursacht.

Zum Beispiel: Ärger ist Ursache für Blutdruckanstieg, schnelles Gestikulieren etc. (Beides sind Klassen von Verhaltensweisen, d.h. minimale Unterschiede in den Gestiken sind irrelevant.) Er führt oft auch zu weiteren mentalen Zuständen, z.B. einen langanhaltenden Groll (der wiederum zu weiterem Verhalten führt etc.).

Natürlich hat Ärger nicht immer dieselben Konsequenzen. Manchmal führt er zu dem Zustand des Vergebens, anstatt des Grolls. Dies Problem könnte man theoretisch auf verschiedene Weisen behandeln: entweder gibt es verschiedene Formen von Ärger, oder Ärger führt lediglich, wie oben angedeutet, zu einer Disposition für weitere mentale Zustände, zwischen denen sich erst "entschieden" wird, wenn weitere externe oder interne Ereignisse eintreten (hat man eine Entschuldigung erhalten; erinnert man sich, daß man selbst mal dasselbe Ärgernis verursacht hat etc.) In diesem Fall bleibt lediglich ein semantisches Problem übrig, kein theoretisches. Die Frage ist nicht mehr, was ist ein mentaler Zustand, sondern für welche Zustände verwenden wir das Wort "Ärger".

Dies ist eine Skizze einer Theorie analog zur klassischen Thermodynamik. Natürlich ist sie nicht so ausformuliert, und präzise wie die Thermodynamik. Aber angesichts der Menge an mentalen Zuständen, die wir unterscheiden und deren komplexen Abhängigkeiten voneinander sowie von externen Ereignissen, wäre das auch zuviel verlangt. Thermodynamik reduziert die Menge an Freiheitsgraden dramatisch und macht deshalb die Physik makroskopischer Körper verständlich. Die Theorie der mentalen Zustände macht dasselbe für die relevanten Eigenschaften neuronaler Netze. Diese Eigenschaften sind aber um einiges komplexer als die rein physikalischen Eigenschaften makroskopischer Körper. Bei der Reduktion bleibt deshalb ein erheblicher Komplexitätsgrad übrig.

Eine mathematisch präzise Theorie mentaler Zustände wäre immer noch viel zu komplex, als daß wir sie verstehen könnten. Deswegen verwenden wir eher eine grobe Näherung wie Küchenpsychologie. Das allerdings durchaus erfolgreich.

Vielleicht überflüssig zu erwähnen, aber mein Punkt ist natürlich auch nicht, daß die obige Theorie korrekt ist. Aber ich behaupte sie hat Eigenschaften, die eine korrekte und vollständige Theorie mentaler Zustände haben könnte.

Zitat:

Alles was existiert ist ein Glaubenssatz sowie ein behavioristisches Vorgehen, das den mentalen Zustand "ich habe Hunger und will etwas essen" mit der Aussage "ich habe Hunger und will etwas essen" bzw. mit dem Akt des Essen verwechselt.


Die Verwechslung liegt anscheinend bei dir. Der mentale Zustand ist nicht der Akt des Aussagens oder des Essens, sondern die Ursache für diese Akte; bzw. deren Disposition, weil es für komplexe Verhaltensweisen vermutlich mehr als eine Ursache gibt.

Natürlich kannst du darin immer noch eine Verwechslung vermuten und behaupten, diese Ursachen seien nicht die "wahren" mentalen Zustände. Dann begibst aber eher du dich auf metaphysisch dünnes Eis. (Ockham läßt grüßen.)

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Es gibt noch eine andere Möglichkeit: Wir definieren Bewußstein zunächst rein phänomenologisch, als Ursache (oder Disposition) für bestimmte Verhaltensweisen, die wir an uns und anderen wahrnehmen.

Das ist gerade der genannte Kategoriefehler bzw. das metaphysisches Weltbild. Man kann das tun, ist dann jedoch nicht mehr in der Lage, bestimmte Fragen zu stellen, z.B. ob Bewusstsein mehr ist als biochemische Prozesse.


Nein, das stimmt nicht. Von biochemischen Prozessen steht da doch gar nichts, lediglich von Ursachen.

Zitat:

Wenn man den Anspruch dergestalt reduziert und diese Einschränkung kommuniziert, dann ist das erst mal OK. Wenn man meint, den Anspruch nicht reduziert zu haben, dann begeht man eine fatalen Fehler.


Ganz und gar nicht. Mein Anspruch ist, die komplette Realität der Bewußsteinszustände erklären zu wollen. Du gehst davon aus, daß meine Methode dazu nicht ausreicht. Das kann schon sein. Aber wer von uns den Fehler begeht, ist absolut noch nicht entschieden. Ich habe wenigstens eine Methode, mit der ich feststellen kann, in welcher Hinsicht meine Theorien unzureichend sind. Du hast nicht mal das, weil mentale Zustände bei dir offenbar gar keinen Zusammenhang zu Beobachtungen haben müssen. Und nach welchen Kriterien du Magie, Wonder Tissue oder sonstige abergläubische Scheinerklärungen ausschließen willst, ist auch nicht klar.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Die Reduktion dieser Ursachen auf konkrete physikalische Prozesse, die dieselben Effekte (Verhalten) zur Folge haben, ist damit ein wohldefiniertes wissenschaftliches Programm und kein Zirkelschluß.

Es ist zunächst mal ein Programm, das möglicherweise am Kern der Sache vorbeigeht, ohne dies hinterfragen zu können, weil es mentale Zustände ohne direkt sichtbare Effekte vollständig ausklammert.


Das ist schlicht falsch. Es geht nicht nur um "direkt" sichtbare Effekte. Es ist genau umgekehrt: Du erklärst einfach mentale Zustände ohne jegliche Auswirkungen, egal ob direkt oder indirekt, zum "Kern der Sache". Aber selbst wenn es solche Zustände gäbe, was äußerst fraglich ist, wären auf keinen Fall sie allein wesentlich für eine Theorie des Geistes.

Zitat:

Es wird dann zum Zirkelschluss, wenn ich anschließend der Meinung bin, das größere Problem gelöst zu haben, obwohl ich nur ein winziges Problem gelöst habe, das genau zu meiner Methode passt.


Bis jetzt hast du noch nicht mal definiert, worin genau dieses größere Problem besteht. Du postulierst einfach die Existenz irgendwelcher Qualia und verlangst dann, daß man eine Theorie präsentiert, die dir erklärt, was sie bedeuten.

So funktioniert das natürlich nicht. Wenn du meinst Qualia seien absolut notwendiger Bestandteil einer Theorie des Geistes, mußt du diese Theorie präsentieren und begründen welche Probleme durch Qualia gelöst werden.

Daß keine ansatzweise befriedigende Theorie über Qualia existiert, deutet darauf hin, daß der Begriff nutzlos ist, nicht die Theorien, die existieren, ihn aber vermeiden. Tatsächlich scheint sein einziger Zweck zu sein, Probleme zu formulieren, die nach allem was wir wissen Scheinprobleme sein können.

Es ist ein Vorurteil, daß eine akzeptable Theorie des Geistes über Qualia reden muß. Der einzige Hinweis auf diese Qualia ist die Ansicht bestimmter neuronaler Netze sie zu besitzen. Was eine Theorie des Geistes objektiv erklären muß, ist also lediglich die Existenz des Glaubens an Qualia, nicht die Existenz der Qualia. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, daß die beste Erklärung für diesen Glauben die Existenz und direkte Wahrnehmung von Qualia ist. Aber das wäre das Ergebnis (m.E. ein unwahrscheinliches Ergebnis) der Untersuchung, nicht ihre Voraussetzung.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Einfache Frage zum Abschluss: wie testest du wissenschaftlich im Popperschen Sinne, dass eine KI sich beim Lesen eines Textes ärgert?

So, wie bei einer natürlichen Intelligenz. Also mit einer Art emotionalem Turing-Test.

Der Punkt ist, dass du testen musst, ob die KI sich beim Lesen des Textes ärgert, nicht, ob die KI sich dahingehend äußert, sie würde sich ärgern.


Keine Sorge, mir ist schon klar, daß dies dein Punkt ist. Mein Punkt ist, daß du hier vermutlich einer Illusion aufgesessen bist, nämlich der, daß es einen sinnvoll definierten Unterschied gäbe zwischen einer KI, die alle (ich meine wirklich "alle") Anzeichen von Ärger zeigt und einer natürlichen Person, für die dasselbe gilt. Aus diesem Grund habe ich extra betont, daß die KI alle Funktionen (wie Ausdrucksmöglichkeiten und Selbstreflexion) einer natürlichen Person besitzen muß. Aber sie muß nicht mehr besitzen.

Zitat:

Du steckt in der behavioristischen Falle bzw. hast diesbzgl. eine blinden Fleck (oder du spielst advocatus diaboli, bist dir dessen durchaus bewusst und testest gerade mich ;-)


Daß ich Bewußtseinsinhalte unterstelle, unterscheidet mich m.E. vom Behavioristen. Aber wie dem auch sei... Was mich interessiert, ist, ob dieser blinde Fleck von derselben Art ist, die ich auch in Bezug auf Magie oder Wunder besitze. In diesem Fall könnte ich nämlich gut damit leben, und ich habe den Verdacht, daß es genau diese Art ist. Tatsächlich ähnelt dein Einwand verblüffend dem von Abergläubigen. Die kommen auch gerne mit dem vergleichbaren Vorwurf, man sei in einem materialistischen Weltbild "gefangen".

Solange dies nicht entschieden ist, kann ich den Vorwurf ohne weiteres umdrehen: Du hast eine blühende Phantasie, und entweder kannst du die Realität nicht von deinen Illusionen unterscheiden oder du bist nicht bereit dazu und testest gerade meine Geduld im rationalen Argumentieren.;-)

Wie stellst du eigentlich bei einer natürlichen Intelligenz fest, ob sie sich ärgert ohne in die "behavioristische Falle" zu tappen? Oder hältst du das für unmöglich? (Warum war es in deiner Frage dann wichtig, daß die Intelligenz künstlich ist?)
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