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Physik und Philosophie - Seite 2
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index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
Beiträge: 3259

Beitrag index_razor Verfasst am: 12. Jun 2019 07:56    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:

Nein, diese Analyse beweist einfach überhaupt nichts. Überlege dir mal welche Ergebnisse deiner historisch-genealogischen Betrachtung du je als Evidenz für die objektive Existenz mathematischer Objekte gewertet haben würdest -- wenn Platon beim Spaziergang durch die Polis eines Tages über die Zahl 7 gestolpert wäre?

Konjunktive könnte ich auch eine Menge formulieren. Das bringt nichts. Fakten zählen.


Ich habe gerade in Frage gestellt, daß die Fakten, die du aufzählst überhaupt relevant sind. Aber ich denke vorher müssen wir noch etwas anderes klären, nämlich das hier:

Zitat:

Zitat:
Natürlich hatte irgendwann mal einer als erstes die Idee, mathematische Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Das heißt noch lange nicht, daß die Objekte, für die diese Gesetze gelten Produkte des Geistes sind und unabhängig von dieser Idee nicht existieren würden.

Nicht die Objekte. Die Gesetze, der Formalismus.


Ich hatte als allgemein akzeptiert vorausgesetzt, daß "mathematische Gesetze" Aussagen über mathematische Objekte sind, z.b. sind die Gesetze der Arithmetik Aussagen über Zahlen. Ich behaupte Zahlen existieren objektiv und ich dachte du bestreitest das.

Ich vermute außerdem, daß dein Standpunkt gerade die Folge der Verwechslung von mathematischen Strukturen und den sie beschreibenden Formalismen ist.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 17900

Beitrag TomS Verfasst am: 12. Jun 2019 11:08    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Können wir etwa sicher wissen, dass es sich bei empirisch wahrgenommenen mathematische Strukturen um Abbilder von in der Realität (unabhängig von unserer Wahrnehmung) tatsächlich vorhandenen mathematischer Strukturen handelt? Oder können wir sicher wissen, dass dies falsch ist?

Kannst du sicher auszuschließen, dass wir etwas darüber in Erfahrung bringen können? Mit welchem Grad von Gewissheit wird sich zeigen.

Ich bin der Meinung, mit Gewissheit sagen zu können, dass wir über den Zusammenhang zwischen a) wahrgenommenen bzw. von uns auf Basis unserer Wahrnehmung konstruierten mathematischen Strukturen und b) unabhängig von unserer Wahrnehmung bzw. ohne Beobachtung / Messung tatsächlich vorhandenen mathematischer Strukturen nichts mit Sicherheit sagen können (weil uns ohne Beobachtung / Messung der Zugang fehlt).

Siehe auch unten.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Das sehe ich so nicht, zumindest nicht prinzipiell.
Inwiefern benötigt die ART die Newtonsche Theorie als Vorläufer? Das hat sich historisch so ergeben, ist aber nicht logisch zwingend.

Das habe ich auch nicht behauptet. Was heißt „historisch so ergeben“? Das historisch Ergebene hat ganz konkrete Formen: z.B. Relativ.- und Äquiv.-Prinzip, SRT. Glaubst du wirklich, dass Theorien quellenlos aus dem Boden gestampft werden? Oder habe ich dich missverstanden?

Natürlich entstehen Theorien nicht aus dem Nichts, sie entstehen zumeist durch Weiterentwicklung existierender und etablierter Theorien. Im Falle der ART ist strukturell eher die SRT als Vorläufer zu betrachten, weniger Newton.

Dennoch ist dies logisch nicht notwendig. Insbs. verstellt die historische Einordnung oft den Blick auf das wesentliche. Man muss das Bohrsche Atommodell nicht diskutieren, um die Quantenmechanik zu verstehen; im Gegenteil, es ist wahrscheinlich einfacher, Bohr zunächst völlig zu ignorieren.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:

Zitat:
Ich kenne den Konzeptualismus nicht.

Es geht um das Verhältnis von Konkretem zum Allgemeinen, Art und Gattung. Einige, die Realisten, halten Gattungsbegriffe für real existent, z.B. Hund, Gott oder Mensch als solcher (= Platons Ideen); für die Nominalisten sind Gattungsbegriffe nichts als Namen zur Bezeichnung von ähnlichen Dingen; die Konzeptualisten nehmen eine Vermittlerposition ein: das Allgemeine erscheint in der Ähnlichkeit der Konkreta (aber nicht ohne diese) und die Konkreta sind Repräsentanten des Allgemeinen (wird auch Dialektik genannt).

Was bedeutet das für die Punkte (A - C) unten?

Der Punkt ist, dass die von dir genannte Sichtweise in der modernen Physik nicht mehr passt. Es geht nicht bei einem Naturgesetz nicht mehr um einen Gattungsbegriff ausgehend von ähnlichen Dingen, sondern um eine völlig andere Kategorie: die mathematische Formulierung der ART hat zunächst nichts mit Orbits von Planeten zu tun; sie steht eigenständig für sich, alleine, sie kann nicht als Verallgemeinerung von ähnlichen Entitäten gedacht werden.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:

Zitat:
Die Frage ist doch, warum gerade die Mathematik und dabei wiederum bestimmte mathematische Strukturen eine zutreffende Beschreibung und Vorhersage von Phänomenen ermöglichen. Warum gerade diese und nicht andere mathematische Strukturen? Und warum überhaupt mathematische Strukturen, wieso nicht Magie und Mantik?

... Das mathematische Gesetz ist also erstmal eine Idee, eine Schöpfung des menschlichen Geistes (aber leider scheinen dir historisch-genealogische Betrachtungen nichts zu sagen; da geht dir eine Menge Information verloren).

Zunächst mal ist es das (und natürlich sagen mir historische Betrachtungen etwas). Die Frage ist, ob man dabei stehen bleibt, oder ob man die metaphysische Frage stellt, ob das Naturgesetz als Schöpfung des menschlichen Geistes auf eine ewige und unabhängige Idee im Sinne Platons verweist oder nicht, d.h. ob unabhängig von menschlichen Geist eine reale Entität existiert, die eine derartige mathematische Struktur aufweist. Diese Frage ist - s.o. - sicher nicht zu beantworten; eine historische Herangehensweise oder ein Sicht im Sinne von “Παντον χρηματων μετρον εστιν αντηροοποσ, τον μεν οντον οσ εστιν, τον δε ουκ ο ντον οσ ουκ εστιν” hilft dabei absolut nichts; sie negiert letztlich bereits diese Beschäftigung mit dieser metaphysischen Fragestellung.

Also: Warum gerade diese und nicht andere mathematische Strukturen? Und warum überhaupt mathematische Strukturen, wieso nicht Magie und Mantik? Nur historisch bedingt? Menschengemacht? Zufällig?

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:

Zitat:
Zunächst mal müssen wir unterscheiden zwischen
A) mathematischen Strukturen “an sich”,
B) mathematischen Strukturen, die wir in bestimmten physikalischen Phänomene entdecken, sowie
C) mathematischen Strukturen, die wir einer hinter (B) liegenden unabhängigen Realität zuschreiben

Ich denke, alle drei Aussagen sind metaphysisch (besser: unbegründet)

ad A) Was meinst du mit an-sich? Wenn Platons Ideen damit gemeint sind, fehlt der Beweis, dass Gattungsbegriffe real sind.

ad B) … soll heißen: mathem. Strukturen existieren real in den Dingen? Dann müssten diese Strukturen auch real in Allem, was mathem. beschreibbar ist vorliegen, wie soziale Populationen, ökonomische Systeme oder Wahlprognosen.

ad C) Was ist mit hinter (B) gemeint: mathem. Strukturen oder physikalische Phänomene? Gibt es noch eine Realität hinter den m. Strukturen bzw. den physik. Phänomenen oder sind sie selbst die Realität? Nach welchen Kriterien erfolgt diese Zuschreibung?

zu A) Ja, damit sind mathematische Strukturen und Entitäten im Sinne Platons gemeint. Sie können jedoch nicht als Gattung verstanden werden (das mag bei Dreiecken funktionieren, jedoch eher schlecht bei komplizierteren Strukturen, bei denen wir über die Gesamtheit diskutieren können, jedoch nicht mehr über die einzelnen Elemente wie z.B. bei den reellen Zahlen)

zu B) zunächst ist mir der Begriff “Ding” unklar; z.B. ist ein Elektron im Sinne der Quantenfeldtheorie kein “Ding” im herkömmlichen Sinne; darüberhinaus geht es mir hier zunächst nicht um etwas abstraktes wie ein “Ding” sondern um konkrete Phänomene, in denen wir mathematische Muster erkennen: Spektrallinien, Interferenzmuster, Flavor-Symmetrie, ...

zu C) Nun wieder genau anders herum: nicht die Phänomene, sondern Realität hinter bzw. ohne Beobachtung. Nach Platon würden wir sagen “ja”, das gibt es; Nach Berkley “nein”, denn “esse est percipi”. Penrose u.a. Physiker (OK, Penrose hat sich nur zeitweise mit Physik befasst) folgen eher Platon, viele andere eher nicht Berkeley; sie nehmen zumeist eine agnostische Position ein, gemäß derer diese Fragestellungen unphysikalisch und damit nicht diskutierbar sind.

Verursacht ein Baum, der in einem Wald ohne Mensch und Tier umfällt ein ein Geräusch? Was bleibt, wenn man das Geräusch von allem entkleidet, was über Sinneswahrnehmung entsteht? Nichts? Oder doch ein Etwas, der auch ohne Wahrnehmung existent ist? Existiert der Mond, auch wenn niemand ?

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Astronomen finden, dass Planeten auf Ellipsenbahnen umlaufen, weil das tatsächlich der Fall ist, nicht, weil sie das irgendwie in ihre Beobachtungen hineindenken.

Die Planeten laufen so, wie intrinsische Elemente der Natur (Kräfte, Geodäten) das bewirken und nicht weil es hineingedacht oder von einer Mathem. oktroyiert wird; die Form nennen wir Ellipse und haben dazu den Formalismus entwickelt.

Aber der Formalismus befasst sich zunächst nicht mit Geodäten und Ellipsen, sondern mit allgemeineren und zumeist prinzipiell nicht beobachtbaren Entitäten. Welcher Status kommt diesen Entitäten zu? In welcher Weise existiert der Hilbertraum plus die darauf definierte Operatoralgebra der Quantenmechanik? In welcher Weise existiert eine Riemannsche Mannigfaltigkeit mit einer Äquivalenzklasse von Metriken?

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:

A) Definition "Struktur" … Definition "Charakteristisches Verhalten"...
B) Wir entdecken und ordnen im Erfahrungsbereich Gruppen von Ereignissen, Objekten und Prozessen, die die Merkmale gem. A) aufweisen und bezeichnen sie als Haupt-, Unter-, etc. System.
C) Struktur und charakteristisches Verhalten der Systeme und ihrer Elemente werden durch schöpferische Entwicklung der Mathematik mit höchstmöglicher Kongruenz zwischen Objekt und Abbildung formalisiert und abgebildet.

Kann so sein, muss aber nicht.

Ist (C) ein ausschließlich schöpferischer Prozess, oder ist es eher ein Entdecken von prä-existenten und autonomen Strukturen?

Ich denke, das sind nicht weiter hinterfragbare Standpunkte.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Daraus ergibt sich eben nicht, dass M. schon in der Natur a priori vorhanden wäre.

Weder kann man die Existenz der Mathematik in der Natur logisch begründen, noch kann man sie logisch ausschließen, das sind nicht weiter hinterfragbare Standpunkte.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:

D) Da die Anzahl der mathematischen Elemente größer ist als die der abzubildenden ontologischen Elemente, entscheidet als letzte Instanz die Empirie über die Zuordnung.

Die Empirie funktioniert offenbar: wir erkennen eine SU(3)-Color-Symmetrie, und wir schließen eine Sp(17) aus. Aber warum funktioniert dies? Und in welcher Weise dürfen wir überhaupt noch von Empirie spechen? Hast du schon mal ein SU(3)-Faserbündel gesehen? Und inwiefern sieht es anders aus als ein Sp(17)-Fasrbündel?

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TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 12. Jun 2019 11:23    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Der Mensch systematisiert und formalisiert das Wahrgenommene. Nur das ist beobachtbar. Damit ist die M. zunächst einmal nichts anderes als ein geistiges Konstrukt. Dieses geistige Konstrukt als eine intrinsische Eigenschaft der Natur zu postulieren, lässt sich daraus nicht ableiten.

Zunächst. Damit lässt sich dann aber auch nichts widerlegen.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Dem liegt mE. eine Verwechslung von naturhafter Regelhaftigkeit und mathem. Gesetzmäßigkeit zugrunde.

Dem liegt sicher nicht einfach eine Verwechslung zugrunde.

Die positivistische bzw. instrumentalistische Sichtweise war zeitweise unter Physikern so dominant, dass jeder, der eine andere - im weitesten Sinne Platon folgende - Position einnimmt, um diese sehr lange gerungen hat.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Aber sie [die Mathematik] ist und bleibt ein Kind des menschl. Geistes.


Du folgst m.E. einer im weitesten Sinne empirisch-sparsamen Vorgehensweise. Ok, ist eine sicher vernünftige Position.

Ich denke, was dir fehlt ist die eigene, intensive Beschäftigung mit Mathematik und Physik. Viele - im Falle der Mathematik wahrscheinlich sogar die Mehrheit - gelangen dabei eher zu der Einsicht, dass sie weniger schöpferisch als vielmehr als Entdecker unterwegs sind; eine neue mathematische Definition oder Konstruktion ist dann nicht die Schöpfung eines vollständig neuen rein geistigen Reiches, sondern eher das Aufstoßen einer Türe zu einem unendlichen Gebäude, das es zu erkunden gilt.

Aus dieser Sichtweise folgt rein logisch nichts! Sie macht aber - zumindest ansatzweise - die Position vieler Mathematiker und Physiker begreifbar.

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TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 12. Jun 2019 11:30    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
... diese Analyse beweist überhaupt nichts ... Natürlich hatte irgendwann mal einer als erstes die Idee, mathematische Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Das heißt noch lange nicht, daß die Objekte, für die diese Gesetze gelten Produkte des Geistes sind und unabhängig von dieser Idee nicht existieren würden.

Richtig.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Du setzt voraus, was du beweisen willst (und was der Platoniker natürlich leugnet), nämlich, daß Existenz irgendwie an physische Eigenschaften, bzw. "Materie" im weiteren Sinne, gebunden wäre.

Richtig.

Der Platoniker hat seine guten Gründe; er kennt natürlich auch treffende Gegenargumente.

Damit landen wir dann wieder bei der nicht weiter hinterfragbaren philosophischen Grundhaltung.

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index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
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Beitrag index_razor Verfasst am: 12. Jun 2019 13:32    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Der Platoniker hat seine guten Gründe; er kennt natürlich auch treffende Gegenargumente.

Damit landen wir dann wieder bei der nicht weiter hinterfragbaren philosophischen Grundhaltung.


Das ist, denke ich, genau der Punkt, an dem wir auseinandergehen. Ich halte die Gegenargumente nicht für treffend, sondern für unhaltbar. (Das bezieht sich wohlgemerkt nur auf die Position von Deep Purple, nicht den "Streit" zwischen Realisten, Formalisten, Konstruktivisten und wie sie alle heißen, innerhalb der Mathematik.) Die Gegenargumente, die ich kenne und akzeptiere, ergeben sich aus den Antinomien der naiven Mengenlehre. Und sie betreffen höchstens die Existenz bestimmter abstrakter Objekte (wie bestimmter unendlicher Mengen usw.), nicht die objektive Existenz abstrakter Objekte im allgemeinen.

Für mich handelt es sich nicht um gleichberechtigte Positionen, die man je nach modischen Vorlieben an- oder ablegen kann. Nur weil es sich nicht um eine empirische Fragestellung handelt, heißt das nicht, daß alle Ansichten zu dieser Frage gleich plausibel oder sinnvoll sind.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 17900

Beitrag TomS Verfasst am: 12. Jun 2019 15:34    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Der Platoniker hat seine guten Gründe; er kennt natürlich auch treffende Gegenargumente.

Damit landen wir dann wieder bei der nicht weiter hinterfragbaren philosophischen Grundhaltung.


Das ist, denke ich, genau der Punkt, an dem wir auseinandergehen. Ich halte die Gegenargumente nicht für treffend, sondern für unhaltbar. (Das bezieht sich wohlgemerkt nur auf die Position von Deep Purple, nicht den "Streit" zwischen Realisten, Formalisten, Konstruktivisten und wie sie alle heißen, innerhalb der Mathematik.) Die Gegenargumente, die ich kenne und akzeptiere, ergeben sich aus den Antinomien der naiven Mengenlehre. Und sie betreffen höchstens die Existenz bestimmter abstrakter Objekte (wie bestimmter unendlicher Mengen usw.), nicht die objektive Existenz abstrakter Objekte im allgemeinen.

Ich denke, wir werfen hier verschiedene Themen durcheinander - sorry, da bin auch ich mit dran schuld.

Zum ersten geht es im Sinne von (A) um Strukturen der reinen Mathematik.

Zum zweiten geht es im Sinne von (C) um die Entitäten, Strukturen und Prozesse einer unabhängigen physikalischen Realität, die gewissen mathematischen Strukturen gehorchen.

Zu (A) kennt man u.a. die Gegenargumente der Konstruktivisten / Intuitionisten.

Zu (C) kann man zunächst Gegenargumente diverser agnostischer bzw. positivistischer Schulen anführen, die bereits die Existenz einer unabhängigen physikalischen Realität in Frage stellen bzw. für nicht sinnvoll diskutierbar halten. Darüberhinaus kann man außerdem zwar eine unerkennbare unabhängige Realität anerkennen, jedoch in Abrede stellen, dass sie mathematischen Strukturen gehorcht; letztere wären dann wiederum ein von uns geschaffenes künstliches Ordnungskriterium.

Ich denke, man sollte (A) und (C) nicht vermischen. Es wäre eine sehr spezielle Positionen, wenn man (B) Phänomene und die von uns konstruierten mathematischen Strukturen mit (C) identifizieren würde. Genauso ist es eine sehr spezielle Position Tegmark’s, dass er (A) und (C) identifiziert.

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index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
Beiträge: 3259

Beitrag index_razor Verfasst am: 12. Jun 2019 20:07    Titel: Antworten mit Zitat

Ehrlich gesagt war mir von Anfang an unklar wozu diese Unterscheidung notwendig sein sollte. Die Art der Argumente für oder gegen eine bestimmte Ontologie unterscheiden sich m.E. nicht wesentlich, und der Übergang zwischen "reiner" und "angewandter" Mathematik ist ohnehin fließend.

Und anstatt, die physikalische Realität "gehorche bestimmten mathematischen Strukturen", sollte man lieber sagen, daß Aussagen, welche nur näherungsweise auf die Natur zutreffen, exakt von bestimmten mathematischen Modellen erfüllt werden. Angesichts der Tatsache, daß jede widerspruchsfreie Menge von Aussagen von irgendeinem mathematischen Modell erfüllt wird, finde ich "Effektivität der Mathematik" in Bezug auf alles, worüber ich überhaupt verständliche und (einigermaßen) zutreffende Aussagen formulieren kann -- also ebenfalls auf die Natur --, nicht mehr ganz so überraschend.

Wenn also etwas erstaunlich bleibt, dann nur, daß wir 1) überhaupt zutreffende Aussagen über die Natur formulieren können und daß sich 2) diese Aussagen offenbar aus recht überschaubar vielen und recht einfachen Grundprinzipien ableiten lassen. Davon hat 1) mindestens genauso viel mit der Beschaffenheit der Natur wie mit unseren eigenen intellektuellen Fähigkeiten zu tun und bei 2) bin ich mir nicht sicher, ob nicht nur ein rein logisches Phänomen vorliegt. Denn die zu erklärenden Aussagen leiten wir nicht aus den allgemeinen Prinzipien allein ab, sondern nur mit Hilfe von Anfangs- und Randbedingungen. Und die präzise Formulierung dieser Bedingungen kann genauso kompliziert und vielfältig sein, wie die abzuleitenden Prognosen. (Das ist jetzt allerdings zugegebenermaßen ziemlich aus der Hüfte geschossen, und möglicherweise kompletter Unsinn.)
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 17900

Beitrag TomS Verfasst am: 13. Jun 2019 09:59    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ehrlich gesagt war mir von Anfang an unklar wozu diese Unterscheidung notwendig sein sollte.

Welche Unterschiede?

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Und anstatt, die physikalische Realität "gehorche bestimmten mathematischen Strukturen", sollte man lieber sagen, daß Aussagen, welche nur näherungsweise auf die Natur zutreffen, exakt von bestimmten mathematischen Modellen erfüllt werden.

Das ist nicht eine Präzisierung sondern im philosophischen Sinn eine völlig andere Aussage.

Die Aussage “die physikalische Realität gehorche bestimmten mathematischen Strukturen“ bezieht sich auf die Realität, eine Aussage über “mathematische Modelle” bezieht sich allein auf ebendiese und besagt nichts über den Bezug zwischen Modell und Realität.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Wenn also etwas erstaunlich bleibt, dann nur, daß wir 1) überhaupt zutreffende Aussagen über die Natur formulieren können und daß sich 2) diese Aussagen offenbar aus recht überschaubar vielen und recht einfachen Grundprinzipien ableiten lassen.

Ja, das ist zunächst erstaunlich.

Die sich daran anschließende Frage ist dann, ob die Sprache, in der wir diese Aussagen formulieren, etwas über Natur selbst sagt, oder ob es lediglich eine effiziente Sprache ist.

Erstes Beispiel: ein Photon hinter einem Strahlteiler mit zwei Lichtwegen Rechts und Links werde durch den mathematischen Zustandsvektor



beschrieben. Frage: befindet sich das reale Photon tatsächlich in einem Superpositionszustand, den das mathematische Modell “treu” oder “xxx-morph” repräsentiert? oder ist der tatsächliche Zustand des realen Photons unerkennbar, und der Zustandsvektor bleibt ein rein mathematisches Modell ohne erkennbaren Bezug zur Realität? wenn letzteres, warum funktioniert diese mathematische Beschreibung, die weder einen Bezug zur Realität aufweist, noch zu unseren empirisch gewonnen Wahrnehmungen?

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Frankx



Anmeldungsdatum: 04.03.2015
Beiträge: 981

Beitrag Frankx Verfasst am: 13. Jun 2019 16:03    Titel: Antworten mit Zitat

Zitat:
Frage: befindet sich das reale Photon tatsächlich in einem Superpositionszustand, den das mathematische Modell “treu” oder “xxx-morph” repräsentiert? oder ist der tatsächliche Zustand des realen Photons unerkennbar, und der Zustandsvektor bleibt ein rein mathematisches Modell ohne erkennbaren Bezug zur Realität? wenn letzteres, warum funktioniert diese mathematische Beschreibung, die weder einen Bezug zur Realität aufweist, noch zu unseren empirisch gewonnen Wahrnehmungen?


Gegenfrage: Was ist ein reales Photon?
Für mich steht der Begriff Photon für ein Modell mit bestimmten Eigenschaften. Mit Hilfe dieses Modells kann man bestimmte Voraussagen zu empirisch beobachtbaren Versuchsergebnissen machen (Welle-Teilchen-Dualismus). Für dieses Modell kann man mathematische Zusammenhänge formulieren und es (das Modell) kann sich problemlos in einem Superpositionszustand befinden, eben weil es ein Modell ist.

.

edit: Wenn die Werbung wieder nervig wird und die Beiträge überdeckt, werde ich nicht mehr posten.
Manche Werbefuzzis begreifen es einfach nicht, wenn sie übertreiben.

.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 17900

Beitrag TomS Verfasst am: 13. Jun 2019 17:23    Titel: Antworten mit Zitat

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Gegenfrage: Was ist ein reales Photon?

Ein reales Photon ist das Gebilde, Objekt, Ding, Entität ... das in der realen Welt „da draußen“ unabhängig von unserer Existenz, Beobachtung, Experimenten, Denken, Modellen ... existiert.

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Für mich steht der Begriff Photon für ein Modell mit bestimmten Eigenschaften.

Dann würde ich nicht „real“ sagen. Um den Unterschied zwischen Modell und Realität klar zu formulieren, nenne ich ein Beispiel, also z.B. einen Zustandsvektor. Das wäre dann das mathematische Modell für ein (reales) Photon, z.B. im Rahmen der QED.

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Mit Hilfe dieses Modells kann man bestimmte Voraussagen zu empirisch beobachtbaren Versuchsergebnissen machen. Für dieses Modell kann man mathematische Zusammenhänge formulieren und es (das Modell) kann sich problemlos in einem Superpositionszustand befinden, eben weil es ein Modell ist.

Ja, alles richtig und vernünftig, aber eben keine Aussage zur Realität, insofern diese nicht beobachtet wird.

Schauen wir uns einen naiven Realisten und praktizierenden Physiker an. Dieser glaubt an die reale Existenz der Welt, auch ohne dass er diese beobachtet. Außerdem formuliert er mathematische Modelle, die es ihm erlauben, Messergebnisse im Voraus zu berechnen. Soweit ist alles klar und wenig spannend. Philosophisch interessant wird es dann, wenn man den Bezug zwischen Modell und Realität diskutiert.

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Deep Purple



Anmeldungsdatum: 06.05.2019
Beiträge: 44

Beitrag Deep Purple Verfasst am: 13. Jun 2019 18:33    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Ich denke, wir werfen hier verschiedene Themen durcheinander - sorry, da bin auch ich mit dran schuld.

Richtig.
Zitat:
Zum ersten geht es im Sinne von (A) um Strukturen der reinen Mathematik.

Wo verortest du die?
Zitat:
Zum zweiten geht es im Sinne von (C) um die Entitäten, Strukturen und Prozesse einer unabhängigen physikalischen Realität, die gewissen mathematischen Strukturen gehorchen.

Diese anthropomorphe Formulierung entlarvt schon das Projektive und setzt die unbewiesene und unbegründete mathem. Gesetzmäßigkeit der Natur voraus. Das ist ein Vor (-schnelles) Urteil.
Zitat:
Frage: befindet sich das reale Photon tatsächlich in einem Superpositionszustand, den das mathematische Modell “treu” oder “xxx-morph” repräsentiert? oder ist der tatsächliche Zustand des realen Photons unerkennbar, und der Zustandsvektor bleibt ein rein mathematisches Modell ohne erkennbaren Bezug zur Realität? wenn letzteres, warum funktioniert diese mathematische Beschreibung, die weder einen Bezug zur Realität aufweist, noch zu unseren empirisch gewonnen Wahrnehmungen?

Also 1) zeigt diese wiederholte Frage, dass du hier offensichtlich noch nicht viel weiter gekommen bist (was mE. an deiner Methodik liegt, s. o.).

2) Wenn du den Zustandsvektor so krass von der Realität abschneidest, dann hast du natürlich ein Problem. Irgendeinen Bezug muss er ja wohl haben, sonst stünde er nicht da, wo er steht. Physik ist nun mal keine reine Mathem.

Aber zu der Superposition hätte ich eine Hypothese (bzw. habe ich die hier irgendwo gelesen): je kleiner die klassischen Teilchen/Objekte werden, desto mehr kommt der eigentliche elektrodynamische Feld-Charakter zum Zuge (die Festigkeit eines Atoms ist ja schon eine Illusion, ähnlich der „Festigkeit“ eines drehenden Ventilators). Ein Quant ist real nicht komplementär, sondern an sich ein „Gefüge“ aus Welle & Teilchen und je nachdem, welchen realen (oder Labor-) Bedingungen es unterliegt, überwiegt der entsprechende Teilcharakter. In diesem Sinne hätte es einen intrinsischen superpositionalen Zustand.


Zuletzt bearbeitet von Deep Purple am 13. Jun 2019 23:03, insgesamt einmal bearbeitet
Frankx



Anmeldungsdatum: 04.03.2015
Beiträge: 981

Beitrag Frankx Verfasst am: 13. Jun 2019 19:40    Titel: Antworten mit Zitat

Zitat:
Ein reales Photon ist das Gebilde, Objekt, Ding, Entität ... das in der realen Welt „da draußen“ unabhängig von unserer Existenz, Beobachtung, Experimenten, Denken, Modellen ... existiert.

Die Realität ist zuerst einmal das, was über unsere Sinne erfahrbar ist. Ein Photon ist als solches nicht erfahrbar. Aber es gibt beobachtbare Phänomene, die sich mit dem Modell "Photon" erklären und vor allem vorhersagen lassen.
Es hat ja auch lange gedauert, bis man zur Idee vom Photon gekommen ist.

Mit anderen Worten, ein Photon ist ein Modell und als solches ein Werkzeug zur Vorhersage beobachtbarer Phänomene. Die dem Photon zugewiesene Mathematik beschreibt letztlich die Eigenschaften des Modells gerade so, dass es seinen Zweck erfüllt.
Das ist, als wenn man sich wundert, dass ein Hammer vorn spitz, hinten stumpf ist und einen Stiel zum Anfassen hat. Er wurde eben gerade so entwickelt, dass er seine Aufgaben, z.B. Einschlagen von Nägeln, erfüllt.

.
Deep Purple



Anmeldungsdatum: 06.05.2019
Beiträge: 44

Beitrag Deep Purple Verfasst am: 13. Jun 2019 20:08    Titel: Antworten mit Zitat

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Ein reales Photon ist das Gebilde, Objekt, Ding, Entität ... das in der realen Welt „da draußen“ unabhängig von unserer Existenz, Beobachtung, Experimenten, Denken, Modellen ... existiert.

Die Realität ist zuerst einmal das, was über unsere Sinne erfahrbar ist. Ein Photon ist als solches nicht erfahrbar. Aber es gibt beobachtbare Phänomene, die sich mit dem Modell "Photon" erklären und vor allem vorhersagen lassen.
Es hat ja auch lange gedauert, bis man zur Idee vom Photon gekommen ist.

Mit anderen Worten, ein Photon ist ein Modell und als solches ein Werkzeug zur Vorhersage beobachtbarer Phänomene. Die dem Photon zugewiesene Mathematik beschreibt letztlich die Eigenschaften des Modells gerade so, dass es seinen Zweck erfüllt.
Das ist, als wenn man sich wundert, dass ein Hammer vorn spitz, hinten stumpf ist und einen Stiel zum Anfassen hat. Er wurde eben gerade so entwickelt, dass er seine Aufgaben, z.B. Einschlagen von Nägeln, erfüllt.
.

Genau so muss es erst mal formuliert werden!
Und dann kann man mE weitersehen, wie der Bezug zu der Natur an sich hergestellt werden kann und in welchem Verhältnis zur Mathe. sie steht.
index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
Beiträge: 3259

Beitrag index_razor Verfasst am: 13. Jun 2019 20:30    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ehrlich gesagt war mir von Anfang an unklar wozu diese Unterscheidung notwendig sein sollte.

Welche Unterschiede?


Ich bezog mich auf deine Bemerkung wir würden etwas durcheinanderwerfen, insbesondere die Situation A) und C). Wenn wir darüber reden, welche Art von Objekten wir als "existent" annehmen, müssen wir beides m.E. nicht unterscheiden.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Und anstatt, die physikalische Realität "gehorche bestimmten mathematischen Strukturen", sollte man lieber sagen, daß Aussagen, welche nur näherungsweise auf die Natur zutreffen, exakt von bestimmten mathematischen Modellen erfüllt werden.

Das ist nicht eine Präzisierung sondern im philosophischen Sinn eine völlig andere Aussage.

Die Aussage “die physikalische Realität gehorche bestimmten mathematischen Strukturen“ bezieht sich auf die Realität, eine Aussage über “mathematische Modelle” bezieht sich allein auf ebendiese und besagt nichts über den Bezug zwischen Modell und Realität.


Doch, ich denke der Zusammenhang ist dir entgangen. Ich formuliere nochmal anders: Wir haben eine Menge (annähernd) zutreffender Aussagen über die Realität. Folglich (!) haben wir ein mathematisches Modell, auf welches dieselben Aussagen exakt zutreffen. Dieses Modell nennen wir ein idealisiertes (mathematisches) Abbild der Realität. Dies ist der einzige Zusammenhang, den ich sehe.

Die verbleibende Frage ist also nur, woher wir die zutreffenden Aussagen haben, mit denen ich gestartet bin. Dieses Problem ist immer noch schwierig genug. Es enthält Aspekte zur Ausdrucksstärke unsere Sprachen und zur evolutionären Entwicklung von Intelligenz. Aber das mathematische Modell ist daraus völlig eliminiert. Es ergibt sich automatisch.

Was du darüberhinaus unter "die Realität gehorche den mathematischen Modellen" verstanden haben willst, verstehe ich nicht.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Wenn also etwas erstaunlich bleibt, dann nur, daß wir 1) überhaupt zutreffende Aussagen über die Natur formulieren können und daß sich 2) diese Aussagen offenbar aus recht überschaubar vielen und recht einfachen Grundprinzipien ableiten lassen.

Ja, das ist zunächst erstaunlich.

Die sich daran anschließende Frage ist dann, ob die Sprache, in der wir diese Aussagen formulieren, etwas über Natur selbst sagt, oder ob es lediglich eine effiziente Sprache ist.


Die Sprache ist mir explizit egal. Ich gehe nur davon aus, daß meine Aussagen ein Minimum an Formalisierbarkeit aufweisen, also z.B. in der üblichen Prädikatenlogik formulierbar sind. Das scheint mir keine schwerwiegende Einschränkung zu sein. Und es ist für die Naturwissenschaft bestimmt ausreichend. Also kann ich es im Rahmen der Diskussion als erfüllt voraussetzen.

Davon, daß die Aussagen auf die Natur zutreffen, bin ich ausgegangen. Die einzige technischen Schwierigkeiten, die ich mit dieser Voraussetzungen sehe, sind die nach der Präzision der gemachten Beobachtung. An diese muß ich meine Formulierung eventuell anpassen. (Je präziser ich beobachte, desto komplizierter muß ich vielleicht formulieren, damit die Aussage immer noch zutrifft.)


Zitat:

Erstes Beispiel: ein Photon hinter einem Strahlteiler mit zwei Lichtwegen Rechts und Links werde durch den mathematischen Zustandsvektor



beschrieben. Frage: befindet sich das reale Photon tatsächlich in einem Superpositionszustand, den das mathematische Modell “treu” oder “xxx-morph” repräsentiert? oder ist der tatsächliche Zustand des realen Photons unerkennbar, und der Zustandsvektor bleibt ein rein mathematisches Modell ohne erkennbaren Bezug zur Realität? wenn letzteres, warum funktioniert diese mathematische Beschreibung, die weder einen Bezug zur Realität aufweist, noch zu unseren empirisch gewonnen Wahrnehmungen?


Bisher ging es mir nur um die Frage, warum die Mathematik als Ganzes geeignet ist die Realität zu beschreiben. Hier scheinst du aber zu fragen, ob ein bestimmtes mathematisches Modell dazu geeignet ist, nämlich das eines Hilbertraums. Das ist eine ganz andere Frage, die ich nicht mit Armlehnenphilosophie allein beantworten kann. (Wenn du willst veruche ich hierauf auch ein Antwort, aber ich wollte erst mal feststellen, daß ich das für ein anderes Thema halte.)
TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 13. Jun 2019 23:46    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:

Zitat:
Zum ersten geht es im Sinne von (A) um Strukturen der reinen Mathematik.

Wo verortest du die?

Was meinst du mit „wo“?

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:

Zitat:
Zum zweiten geht es im Sinne von (C) um die Entitäten, Strukturen und Prozesse einer unabhängigen physikalischen Realität, die gewissen mathematischen Strukturen gehorchen.

Diese anthropomorphe Formulierung entlarvt schon das Projektive und setzt die unbewiesene und unbegründete mathem. Gesetzmäßigkeit der Natur voraus. Das ist ein Vor (-schnelles) Urteil.

Ich setze nichts voraus und ich urteile nicht; ich stelle Thesen oder Fragen in den Raum. Die Formulierung ist schwierig, weil uns nur eine Sprache gegeben ist, die jenseits des Alltäglichen immer unzureichend - da nicht dafür gemacht - ist.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:

Zitat:
Frage: befindet sich das reale Photon tatsächlich in einem Superpositionszustand, den das mathematische Modell “treu” oder “xxx-morph” repräsentiert? oder ist der tatsächliche Zustand des realen Photons unerkennbar, und der Zustandsvektor bleibt ein rein mathematisches Modell ohne erkennbaren Bezug zur Realität? wenn letzteres, warum funktioniert diese mathematische Beschreibung, die weder einen Bezug zur Realität aufweist, noch zu unseren empirisch gewonnen Wahrnehmungen?

Also 1) zeigt diese wiederholte Frage, dass du hier offensichtlich noch nicht viel weiter gekommen bist

Ich werde die Frage solange stellen, umformulieren und diskutieren, bis ich den Eindruck habe, dass wir zumindest bzgl. des Verständnisses der Frage übereinstimmen.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Aber zu der Superposition hätte ich eine Hypothese: je kleiner die klassischen Teilchen/Objekte werden, desto mehr kommt der eigentliche elektrodynamische Feld-Charakter zum Zuge. Ein Quant ist real nicht komplementär, sondern an sich ein „Gefüge“ aus Welle & Teilchen und je nachdem, welchen realen (oder Labor-) Bedingungen es unterliegt, überwiegt der entsprechende Teilcharakter. In diesem Sinne hätte es einen intrinsischen superpositionalen Zustand.

Das sind mir zu viele Worte, die am physikalischen Gehalt vorbeigehen.

Mit Größe hat das wenig zu tun. Der elektrodynamische Feld-Charakter fängt die Eigenschaften und Phänomene von Quantenobjekten genausowenig ein, wie der Teilchenbegriff. Ein Quant ist weder ein „Gefüge“ aus Welle & Teilchen, noch kann die Summe der quantenmechanischen Phänomene auf Welle & Teilchen reduziert werden, z.B. nicht die sogenannte Verschränkung (und was bedeutet überhaupt dein „ist“?)

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Zuletzt bearbeitet von TomS am 14. Jun 2019 07:42, insgesamt 2-mal bearbeitet
TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 14. Jun 2019 00:21    Titel: Antworten mit Zitat

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Die Realität ist zuerst einmal das, was über unsere Sinne erfahrbar ist.

Zunächst sicher ja, aber insgs. ist das wohl ein zu eng gefasster Realitätsbegriff. Denn wenn nur das Realität wäre, was über unsere Sinne erfahrbar ist, dann wäre umgekehrt nichts real, wenn es nicht über unsere Sinne erfahrbar ist. Da würden wir dem Menschen zu viel Bedeutung zumessen.

Nach Wikipedia:

Zitat:
Die Realismusfrage wurde schon früh in der griechischen Philosophie diskutiert. Oftmals wird hierzu der „Homo-Mensura-Satz“ des Protagoras zitiert: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, des Seienden, wie es ist, des Nicht-Seienden, wie es nicht ist.“ Ebenso berühmt ist die These von George Berkeley: „Esse est percipi“ (Sein ist Wahrgenommenwerden). In beiden Zitaten steckt die Überlegung, ob die Realität überhaupt unabhängig vom menschlichen Denken existiert ... Die Existenz von Gegenständen außerhalb des menschlichen Bewusstseins ist weitgehend unbestritten. Ontologischer Realismus bedeutet, dass es diese Gegenstände und Sachverhalte auch ohne den Menschen geben würde. Der Mensch hat keinen Einfluss auf das Dasein und die Struktur der Realität.

Letzterem stimme ich zu. Insofern ist es plausibel, anzunehmen, dass die Realität nicht nur auf die uns empirisch zugänglichen Phänomene beschränkt ist.

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Ein Photon ist als solches nicht erfahrbar.

Aber deswegen nicht nicht-existent.

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Aber es gibt beobachtbare Phänomene, die sich mit dem Modell "Photon" erklären und vor allem vorhersagen lassen.

„Photon“ ist kein Modell, sondern ein Begriff. Ich bezeichne mit dem Begriff „Photon“ eine real und unabhängig von Modellen und Sinneseindrücken existierende Entität, die wir versuchen, mit Modellen zu fassen, und die - in gewisser Weise - über Sinneseindrücke erfahrbar wird.

Wir sollten nicht über den Begriff streiten.

Ganz grob gesprochen gehe ich von einer real existierenden Wirklichkeit aus. In dieser existiert ein X (ich nenne es „Photon“). Dann existiert ein Sinneseindruck o.ä., der durch „die Absorption eines X auf der Netzhaut“ verursacht sowie durch weitere elektrochemische Prozesse vermittelt wird. Und zuletzt haben wir ein mathematisches Modell, mittels dessen wir X sowie Prozesse, an denen dieses X beteiligt ist, beschreiben; im Kontext dieses mathematischen Modells verwendet man zur Repräsentation des „realen X“ einen Zustandsvektor |...>

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Zuletzt bearbeitet von TomS am 14. Jun 2019 07:45, insgesamt einmal bearbeitet
TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 14. Jun 2019 00:41    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ehrlich gesagt war mir von Anfang an unklar wozu diese Unterscheidung notwendig sein sollte.

Welche Unterschiede?


Ich bezog mich auf deine Bemerkung wir würden etwas durcheinanderwerfen, insbesondere die Situation A) und C). Wenn wir darüber reden, welche Art von Objekten wir als "existent" annehmen, müssen wir beides m.E. nicht unterscheiden.

Aber sicher müssen wir das unterscheiden.

Bei (A) handelt es sich um die Existenz mathematischer Entitäten, bei (C) um die Existenz physikalischer Entitäten, die wir mathematisch beschreiben. Es ist doch ein himmelweiter Unterschied, ob wir von der Existenz einer vektorwertigen Funktion x(t) sprechen, oder ob wir von der Existenz einer Masse reden, deren Bewegung wir mittels einer vektorwertigen Funktion x(t) beschreiben.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ich formuliere nochmal anders: Wir haben eine Menge (annähernd) zutreffender Aussagen über die Realität. Folglich (!) haben wir ein mathematisches Modell, auf welches dieselben Aussagen exakt zutreffen. Dieses Modell nennen wir ein idealisiertes (mathematisches) Abbild der Realität. Dies ist der einzige Zusammenhang, den ich sehe.

Nur zur Sicherheit: was ist für dich „die Realität“? Das, was „insgesamt existiert“, oder das, was empirisch gegeben ist?

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Was du darüberhinaus unter "die Realität gehorche den mathematischen Modellen" verstanden haben willst, verstehe ich nicht.

Beschreibt deiner Meinung nach ein Vektor x(t) die tatsächliche Bewegung eines Massenpunktes?

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ich gehe nur davon aus, daß meine Aussagen ein Minimum an Formalisierbarkeit aufweisen, also z.B. in der üblichen Prädikatenlogik formulierbar sind. Das scheint mir keine schwerwiegende Einschränkung zu sein. Und es ist für die Naturwissenschaft bestimmt ausreichend.

Warum?

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Zitat:

Erstes Beispiel: ein Photon hinter einem Strahlteiler mit zwei Lichtwegen Rechts und Links werde durch den mathematischen Zustandsvektor



beschrieben. Frage: befindet sich das reale Photon tatsächlich in einem Superpositionszustand, den das mathematische Modell “treu” oder “xxx-morph” repräsentiert? oder ist der tatsächliche Zustand des realen Photons unerkennbar, und der Zustandsvektor bleibt ein rein mathematisches Modell ohne erkennbaren Bezug zur Realität? wenn letzteres, warum funktioniert diese mathematische Beschreibung, die weder einen Bezug zur Realität aufweist, noch zu unseren empirisch gewonnen Wahrnehmungen?


Bisher ging es mir nur um die Frage, warum die Mathematik als Ganzes geeignet ist die Realität zu beschreiben. Hier scheinst du aber zu fragen, ob ein bestimmtes mathematisches Modell dazu geeignet ist, nämlich das eines Hilbertraums.

Das „ob“ ist doch nicht die Frage. In gewisser Weise ist dieses Modell eines Hilbertraums geeignet; das wissen wir, weil es in gewisser Weise funktioniert. Die Frage ist, was genau dieses Modell besagt: ist es lediglich ein effizientes Mittel zur Berechnung von Messgrößen, oder besagt es etwas über die unabhängig von Modellen und Messungen existierende Realität?

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Beitrag Frankx Verfasst am: 14. Jun 2019 08:57    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Frankx hat Folgendes geschrieben:
Die Realität ist zuerst einmal das, was über unsere Sinne erfahrbar ist.


Zunächst sicher ja, aber insgs. ist das wohl ein zu eng gefasster Realitätsbegriff. Denn wenn nur das Realität wäre, was über unsere Sinne erfahrbar ist, dann wäre umgekehrt nichts real, wenn es nicht über unsere Sinne erfahrbar ist. Da würden wir dem Menschen zu viel Bedeutung zumessen.

Erstens: Ich finde, man sollte (und muss) dem Menschen viel Bedeutung zumessen. Letztlich ist jegliche Philosophie und Wissenschaft ausschließlich dafür da, dass sich die Menschen ein Bild von der Welt machen können um sich darin zurecht zu finden.
"Realität" macht also ohne Menschen keinen Sinn.

Zweitens: Wenn man dann den nicht über die Sinne erfahrbaren Photonen eine reale Existenz zubilligt, muss man sich nicht wundern, wenn sie so seltsame und widersprüchliche Eigenschaften haben. Wenn man sie dagegen als Theorie/Modell betrachtet, sind solche Eigenschaften völlig zwanglos.

Irgendwo habe ich mal sinngemäß folgende Anekdote gelesen: Ein bekannter Physiker antwortete auf die Frage eines Physikstudenten, wie man sich denn nun ein Photon genau vorzustellen hätte, mit: Maul halten, rechnen!

.

edit: Da es mir zu mühselig ist, immer um die aufdringliche MC Doof-Werbung herum zu lesen, verabschiede ich mich vorerst. Für mich ist derlei Belästigung ein Grund mehr, solche Lokalitäten zu meiden.

.
TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 14. Jun 2019 09:53    Titel: Antworten mit Zitat

Frankx hat Folgendes geschrieben:

"Realität" macht also ohne Menschen keinen Sinn.

Doch, weil sie wohl auch da existiert, wo keine Menschen wohnen, und weil sie auch vor dem Menschen schon existiert hat. Die Zeit kurz nach dem Urknall hat nie ein Mensch beobachtet, wird nie Mensch beobachten, ist empirisch unzugänglich.

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Wenn man dann den nicht über die Sinne erfahrbaren Photonen eine reale Existenz zubilligt, muss man sich nicht wundern, wenn sie so seltsame und widersprüchliche Eigenschaften haben.

Damit wirfst du vielen großen Denkern - von Platon über Popper und Penrose und anderen - vor, sie wären fehlgeleitet.

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Wenn man sie dagegen als Theorie/Modell betrachtet, sind solche Eigenschaften völlig zwanglos.

Weil man einen Kategoruefehler begeht, in dem man Sein, Erscheinung und Modell nicht sauber unterscheidet.

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Irgendwo habe ich mal sinngemäß folgende Anekdote gelesen: Ein bekannter Physiker antwortete auf die Frage eines Physikstudenten, wie man sich denn nun ein Photon genau vorzustellen hätte, mit: Maul halten, rechnen!

Ein klassisches Dogma des Denkverbots, dem man ja nicht folgen muss - zumindest nicht, wenn man nicht auch seine Ursprünge und Gegenentwürfe diskutiert.

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Murray Gell-Mann

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Beitrag index_razor Verfasst am: 14. Jun 2019 11:38    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ehrlich gesagt war mir von Anfang an unklar wozu diese Unterscheidung notwendig sein sollte.

Welche Unterschiede?


Ich bezog mich auf deine Bemerkung wir würden etwas durcheinanderwerfen, insbesondere die Situation A) und C). Wenn wir darüber reden, welche Art von Objekten wir als "existent" annehmen, müssen wir beides m.E. nicht unterscheiden.

Aber sicher müssen wir das unterscheiden.

Bei (A) handelt es sich um die Existenz mathematischer Entitäten, bei (C) um die Existenz physikalischer Entitäten, die wir mathematisch beschreiben. Es ist doch ein himmelweiter Unterschied, ob wir von der Existenz einer vektorwertigen Funktion x(t) sprechen, oder ob wir von der Existenz einer Masse reden, deren Bewegung wir mittels einer vektorwertigen Funktion x(t) beschreiben.


Wir müssen natürlich Funktionen und massive Körper voneinander unterscheiden. Genauso wie wir z.B. natürliche Zahlen und reelle Zahlen unterscheiden müssen.

Aber wenn wir fragen was es bedeutet, daß "ein x existiert, so daß...", müssen wir nicht unterscheiden ob x hier eine natürliche Zahl, eine reelle Zahl oder ein Atom sein darf.

In dieselbe Richtung zielen meine Argumente an Deep Purple: Wenn er nicht glaubt, daß die Gesetze der Arithmetik sinnlos oder falsch sind, dann muß er glauben, daß sie zutreffen. Dann muß er aber ebenfalls glauben, daß die Dinge existieren, von denen diese Gesetze behaupten, daß sie existieren, nämlich Zahlen.

(Damit ist er noch nicht gezwungen zu akzeptieren, daß die Menge aller Zahlen existiert. An dieser Stelle ist Raum für vernünftige Meinungsverschiedenheit zwischen Platonikern und Intuitionisten etc., je nachdem welche Strategie man angesichts der Gefahr von Antinomien für ratsam hält. Aber die Leugnung der objektiven Existenz aller abstrakter Objekte ist einfach inkonsistent. Es läßt auch nicht mehr viel übrig. Das meiste worüber wir im Alltag reden sind abstrakte Konzepte, die weit über die Erfahrung hinausgehen.)

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ich formuliere nochmal anders: Wir haben eine Menge (annähernd) zutreffender Aussagen über die Realität. Folglich (!) haben wir ein mathematisches Modell, auf welches dieselben Aussagen exakt zutreffen. Dieses Modell nennen wir ein idealisiertes (mathematisches) Abbild der Realität. Dies ist der einzige Zusammenhang, den ich sehe.

Nur zur Sicherheit: was ist für dich „die Realität“? Das, was „insgesamt existiert“, oder das, was empirisch gegeben ist?


An dieser Stelle war nur die physikalische Welt gemeint, also das was ich sonst meistens "Natur" genannt habe. Das ist weniger als alles was "insgesamt existiert", und mehr als alles was "empirisch gegeben" ist.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Was du darüberhinaus unter "die Realität gehorche den mathematischen Modellen" verstanden haben willst, verstehe ich nicht.

Beschreibt deiner Meinung nach ein Vektor x(t) die tatsächliche Bewegung eines Massenpunktes?


Ja, in dem Sinne, den ich gerade erklärt habe: Über die Bewegung des Massenpunktes lassen sich Aussagen formulieren, die von einem 3dimensionalen Vektorraum erfüllt werden.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Ich gehe nur davon aus, daß meine Aussagen ein Minimum an Formalisierbarkeit aufweisen, also z.B. in der üblichen Prädikatenlogik formulierbar sind. Das scheint mir keine schwerwiegende Einschränkung zu sein. Und es ist für die Naturwissenschaft bestimmt ausreichend.

Warum?


Ich kenne keine Ausnahme. Ich vermute auch ich könnte jede beliebige Aussage in die Prädikatenlogik übersetzen. Das ist genau die Frage nach der Ausdrucksstärke unserer Wissenschaftssprache. Wenn es aber eine Tatsache gäbe, die wir nicht so ausdrücken könnten, wäre die Ausgangsthese von der "effectiveness of mathematics" wohl auch erstmal vom Tisch.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Bisher ging es mir nur um die Frage, warum die Mathematik als Ganzes geeignet ist die Realität zu beschreiben. Hier scheinst du aber zu fragen, ob ein bestimmtes mathematisches Modell dazu geeignet ist, nämlich das eines Hilbertraums.

Das „ob“ ist doch nicht die Frage. In gewisser Weise ist dieses Modell eines Hilbertraums geeignet; das wissen wir, weil es in gewisser Weise funktioniert.


"In gewisser Weise" treffen die Aussagen der QM natürlich zu. Aber es ist nicht gesagt, daß diese Weise die Existenz eines Photons erfordert, welches sich in irgendeinem Zustand befindet. Es kann z.B. sein, daß es gar keine Photonen gibt, sondern nur Quantenfelder oder Strings. Das ist eine Frage, die ich aus den gegebenen Voraussetzungen nicht beantworten kann.

Ich kann nur mit Sicherheit sagen "Zu jeder Menge von akzeptierten Beobachtungsaussagen gibt es irgendein mathematisches Modell, so daß alle diese Beobachtungsaussagen in dem Modell wahr sind". Soviel zur "unreasonable effectiveness of mathematics." Daraus folgt natürlich nicht umgekehrt, daß alle in dem Modell wahren Aussagen auch auf die Natur zutreffen. (Das ist im wesentlichen ja die Frage, die du hier stellst.)

Zitat:

Die Frage ist, was genau dieses Modell besagt: ist es lediglich ein effizientes Mittel zur Berechnung von Messgrößen, oder besagt es etwas über die unabhängig von Modellen und Messungen existierende Realität?


Was dieses Modell für sich allein besagt, hat doch gar nichts mit der Natur zu tun. Das kannst du rein mathematisch untersuchen. Der Bezug zur Natur wird dadurch hergestellt, daß bestimmte Aussagen, die in dem Modell wahr sind auch in der Natur wahr sind. Ist unter diesen Aussagen eine der Form "Es existiert ein x, so daß...", dann existiert ein Ding in der Natur, so daß...

Damit sind wir wieder bei Tarski.

Was das Modell besagt, ist die eine Frage, warum die Mathematik so "unreasonably effective" ist, ist eine vollkommen andere.
index_razor



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Beitrag index_razor Verfasst am: 14. Jun 2019 13:08    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Soviel zur "unreasonable effectiveness of mathematics."


Ich sollte wohl noch hinterherschicken, daß dies anscheinend nicht die "effectiveness" ist, von der Wigner spricht. Ich habe den Artikel nicht gelesen. Er scheint sich aber eher darauf zu beziehen, was ich weiter oben angesprochen habe, nämlich daß sich "2) diese [Beobachtungs-]Aussagen offenbar aus recht überschaubar vielen und recht einfachen Grundprinzipien ableiten lassen." Was mein Argument nicht ohne weiteres erklärt, ist, warum wir nicht nach jeder neuen Beobachtung unsere idealisierenden Modelle komplett über den Haufen werfen müssen.
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 14. Jun 2019 16:48    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Aber wenn wir fragen was es bedeutet, daß "ein x existiert, so daß...", müssen wir nicht unterscheiden ob x hier eine natürliche Zahl, eine reelle Zahl oder ein Atom sein darf.

In dieselbe Richtung zielen meine Argumente an Deep Purple: Wenn er nicht glaubt, daß die Gesetze der Arithmetik sinnlos oder falsch sind, dann muß er glauben, daß sie zutreffen. Dann muß er aber ebenfalls glauben, daß die Dinge existieren, von denen diese Gesetze behaupten, daß sie existieren, nämlich Zahlen.

Man muss hier vorsichtig sein, dass man nicht rein auf der Ebene der Sprache oder des Modells bleibt. Physikalische Sätze enthalten zunächst Aussagen zu anderen physikalischen Aussagen sowie Begriffen; vorzugsweise werden zur quantitativen Beschreibung auch mathematische Formalismen herangezogen. Es gibt dann aber eben auch Aussagen, die über diese rein sprachliche Ebene hinausweisen und insbs. auf messbare Phänomene verweisen, die selbst nicht mehr rein sprachlich erfassbar sind. Ohne diese Ebene der Phänomene würde es sich schlichtweg nicht um Physik handeln.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Nur zur Sicherheit: was ist für dich „die Realität“? Das, was „insgesamt existiert“, oder das, was empirisch gegeben ist?


An dieser Stelle war nur die physikalische Welt gemeint, also das was ich sonst meistens "Natur" genannt habe. Das ist weniger als alles was "insgesamt existiert", und mehr als alles was "empirisch gegeben" ist.

Gut.

Damit kommen wir zur dritten Ebene, nämlich diese „Realität“, „Natur“, ... was „mehr [ist] als alles was "empirisch gegeben" ist“.

Dabei stimme ich dir vollständig zu.

Ich sehe jedoch, dass Physiker oft zweierlei in einen Topf werfen: einerseits die Unmöglichkeit, empirisch überprüfbare Aussagen über Entitäten zu formulieren, die selbst nicht empirisch gegeben sind - andererseits die Behauptung, Physik würde sich ausschließlich mit empirisch zugänglichen Phänomenen und diesbzgl. überprüfbare Aussagen befassen. Letzteres ist - und ich denke, da stimmen wir ebenfalls überein - schlichtweg falsch!

Theoretische Physik wird heute zum ganz großen Teil mittels mathematischer Entitäten formuliert, deren Bezug zur Empirie nur sehr indirekt gegeben ist. „Observable“ sind in allen modernen Theorien nur eine kleine Untermenge aller mathematischen Objekte. Umgekehrt ist es - insbs. im Gegensatz z.B. zur Newtonschen Mechanik - unmöglich bzw. für uns heute unmöglich, moderne Physik ausschließlich mittels Observablen zu formulieren. Das ist vielen, die kein Physikstudium hinter sich haben, nicht klar.

Demzufolge stellt sich zwei Fragen:
1) welchen Bezug zur Realität haben spezielle mathematische Entitäten - sogenannte Observable? diese Frage wird sehr praktisch, jedoch m.E. philosophisch nicht umfassend gelöst; z.B. repräsentiert eine Observable im Rahmen der QM eine messbare Größe, ohne dass der Prozess der Messung selbst definiert wird
2) welche Bezug zur Realität haben mathematische Entitäten, die eben keine Observablen sind? diese Frage wird von den Physikern nicht gelöst, sie bleibt in gewisser Weise metaphysisch; da diese empirisch nicht fassbaren Entitäten jedoch fester Bestandteil der Physik sind und wir nicht ohne sie auskommen, stellt sich aber auch hier die Frage nach dem Bezug zur Realität.

Wenn wir „Natur“ bzw. „Realität“ als umfassender als „empirisch zugängliche Phänomene“ begreifen, und andererseits unser physikalischen Theorien weiter gefasst sind als eine reine Ansammlung empirisch überprüfbarer Sätze, dann stellt sich doch unmittelbar die Frage dem Bezug im Sinne von (2).

Physiker können diese Frage ignorieren oder als „unphysikalisch“ bezeichnen, dadurch verschwindet diese Frage jedoch nicht einfach.

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Was dieses Modell für sich allein besagt, hat doch gar nichts mit der Natur zu tun. Das kannst du rein mathematisch untersuchen. Der Bezug zur Natur wird dadurch hergestellt, daß bestimmte Aussagen, die in dem Modell wahr sind auch in der Natur wahr sind. Ist unter diesen Aussagen eine der Form "Es existiert ein x, so daß...", dann existiert ein Ding in der Natur, so daß...

Ich stimme dir absolut zu, weise jedoch auf meine Unterscheidung (1) vs. (2) hin: „daß bestimmte Aussagen, die in dem Modell wahr sind auch in der Natur wahr sind“ kann und muss ich im Falle von (1) empirisch prüfen, im Falle von (2) kann ich dies nicht empirisch prüfen. Dennoch spielen derartige Aussagen eine maßgebliche Rolle, z.B. die Axiome der QM, denenzufolge ein reales Quantensystem durch einen Hilbertraum mit einem Zustandsvektor sowie einer Algebra von Operatoren, insbs. Observablen d.h. speziell selbstadjungierten Operatoren repräsentiert wird. Es ist schlichtweg nicht möglich, die QM so zu formulieren, dass keine Aussagen mehr existieren, die in die Kategorie (2) fallen.

Ich halte es für seltsam und inkonsistent, wenn Physiker zwar derartige Aussagen verwenden, andererseits jedoch behaupten, derartige Aussagen wären physikalisch sinnlos.

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Anmeldungsdatum: 14.08.2014
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Beitrag index_razor Verfasst am: 15. Jun 2019 17:36    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Man muss hier vorsichtig sein, dass man nicht rein auf der Ebene der Sprache oder des Modells bleibt. Physikalische Sätze enthalten zunächst Aussagen zu anderen physikalischen Aussagen sowie Begriffen; vorzugsweise werden zur quantitativen Beschreibung auch mathematische Formalismen herangezogen. Es gibt dann aber eben auch Aussagen, die über diese rein sprachliche Ebene hinausweisen und insbs. auf messbare Phänomene verweisen, die selbst nicht mehr rein sprachlich erfassbar sind.


Kannst du das etwas genauer erläutern? Welche Phänomene sind nicht rein sprachlich erfaßbar? Mein Argument geht ja mehr oder weniger von der sprachlichen Erfassung dieser Ebene der Phänomene aus. (Deswegen habe ich auch damit angefangen von "Beobachtungsaussagen" zu sprechen.)

Zitat:

Ich sehe jedoch, dass Physiker oft zweierlei in einen Topf werfen: einerseits die Unmöglichkeit, empirisch überprüfbare Aussagen über Entitäten zu formulieren, die selbst nicht empirisch gegeben sind - andererseits die Behauptung, Physik würde sich ausschließlich mit empirisch zugänglichen Phänomenen und diesbzgl. überprüfbare Aussagen befassen. Letzteres ist - und ich denke, da stimmen wir ebenfalls überein - schlichtweg falsch!


Ja, ich denke auch, daß dies falsch ist. Ich glaube auch, daß es hoffnungslos ist, eine scharfe Grenze zwischen "empirisch" und "theoretisch" in der Menge der "Entitäten" zu ziehen. Wir verwenden Theorien zur Ableitung von Konsequenzen, einige dieser Konsequenzen erscheinen uns offensichtlicher als andere. Das ist alles. Der Unterschied ist m.E. kaum philosophisch zu begründen, sondern hat sicher sehr viel mit der Evolution unser Sinnesorgane, dem visuellen Kortex etc. zu tun.

Zitat:

Theoretische Physik wird heute zum ganz großen Teil mittels mathematischer Entitäten formuliert, deren Bezug zur Empirie nur sehr indirekt gegeben ist. „Observable“ sind in allen modernen Theorien nur eine kleine Untermenge aller mathematischen Objekte. Umgekehrt ist es - insbs. im Gegensatz z.B. zur Newtonschen Mechanik - unmöglich bzw. für uns heute unmöglich, moderne Physik ausschließlich mittels Observablen zu formulieren. Das ist vielen, die kein Physikstudium hinter sich haben, nicht klar.

Demzufolge stellt sich zwei Fragen:
1) welchen Bezug zur Realität haben spezielle mathematische Entitäten - sogenannte Observable? diese Frage wird sehr praktisch, jedoch m.E. philosophisch nicht umfassend gelöst; z.B. repräsentiert eine Observable im Rahmen der QM eine messbare Größe, ohne dass der Prozess der Messung selbst definiert wird


Hältst du das für einen Makel? Ich bin der Meinung Begriffe wie "Messung" und "Observable" haben in den Grundlagen der Theorie ohnehin nichts zu suchen. Welche Größen auf welche Weise gemessen werden können, muß aus der Theorie abgeleitet werden. Es läßt sich nicht umgekehrt die Theorie auf dem Verständnis aufbauen welche Prozesse "Messungen" sind und welche Ergebnisse diese haben können.

Der Begriff "Observable" ist ja eigentlich auch kein mathematischer Begriff. Er ist in der QM weitgehend synonym zu "hermitescher Operator", was allerdings nicht identisch ist mit "läßt sich beobachten", ist also mehr oder weniger ein Etikettenschwindel.

Zitat:

2) welche Bezug zur Realität haben mathematische Entitäten, die eben keine Observablen sind? diese Frage wird von den Physikern nicht gelöst, sie bleibt in gewisser Weise metaphysisch; da diese empirisch nicht fassbaren Entitäten jedoch fester Bestandteil der Physik sind und wir nicht ohne sie auskommen, stellt sich aber auch hier die Frage nach dem Bezug zur Realität.


Meine Auffassung ist, daß beide Fragen nicht scharf voneinander abgegrenzt werden können, und auch nicht verschiedene Antworten haben. Jede Aussage über die Eigenschaften eines Objekts in der Theorie überprüfen wir auf dieselbe Weise: wir leiten so lange deduktiv Konsequenzen ab, bis wir bei irgendeiner Aussage landen, die wir für evident halten. Wenn wir dabei nur ein paar einfache logische Schritte machen, dann sagen wir das Objekt ist "direkt" beobachtbar. Wenn die Ableitung lang und kompliziert ist und viele unabhängige Annahmen benötigt, dann sagen wir es ist "höchstens sehr indirekt beobachtbar". Ein fundamentaler Unterschied ist das m.E. nicht.

Zitat:

Wenn wir „Natur“ bzw. „Realität“ als umfassender als „empirisch zugängliche Phänomene“ begreifen, und andererseits unser physikalischen Theorien weiter gefasst sind als eine reine Ansammlung empirisch überprüfbarer Sätze, dann stellt sich doch unmittelbar die Frage dem Bezug im Sinne von (2).


Die einzige Antwort, die ich für möglich halte, habe ich schon gegeben: Es existieren genau die Dinge in der Realität, von denen eine wahre Theorie behauptet, daß sie existieren. Da einige dieser Dinge, deren Existenz behauptet wird, nur "sehr indirekt beobachtbar" sind und die zugehörige Theorie nicht verifizierbar ist, werden wir nie sicher sein können, welche Dinge das sind. Mit anderen Worten, wir werden eben nie mit Sicherheit wissen ob eine nichtfalsifizierte Theorie wahr ist.

Wir können jedenfalls nicht einfach per Beschluß festlegen, daß die "indirekt beobachtbaren" Dinge aus unserer gerade favorisierten Theorie (z.B. der QM) existieren. Entweder existieren sie oder nicht. Wenn wir derartiges beschließen könnten, könnten wir auch gleich beschließen, daß die Theorie wahr ist und nachhause gehen.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Was dieses Modell für sich allein besagt, hat doch gar nichts mit der Natur zu tun. Das kannst du rein mathematisch untersuchen. Der Bezug zur Natur wird dadurch hergestellt, daß bestimmte Aussagen, die in dem Modell wahr sind auch in der Natur wahr sind. Ist unter diesen Aussagen eine der Form "Es existiert ein x, so daß...", dann existiert ein Ding in der Natur, so daß...

Ich stimme dir absolut zu, weise jedoch auf meine Unterscheidung (1) vs. (2) hin: „daß bestimmte Aussagen, die in dem Modell wahr sind auch in der Natur wahr sind“ kann und muss ich im Falle von (1) empirisch prüfen, im Falle von (2) kann ich dies nicht empirisch prüfen.


Wieso nicht? Diese unbeobachtbaren Objekte stehen ja nicht einfach isoliert irgendwo in der Theorie rum. Sie werden irgendwelche Eigenschaften haben, die relevant sind für irgendwelche Phänomene, deren Eintreffen man aus ihnen ableiten kann. Über diesen Zusammenhang kann man indirekt Schlüsse über die Eigenschaften der ("unbeobachtbaren") Objekte ziehen.
Deep Purple



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Beitrag Deep Purple Verfasst am: 15. Jun 2019 19:31    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
In dieselbe Richtung zielen meine Argumente an Deep Purple: Wenn er nicht glaubt, daß die Gesetze der Arithmetik sinnlos oder falsch sind, dann muß er glauben, daß sie zutreffen. Dann muß er aber ebenfalls glauben, daß die Dinge existieren, von denen diese Gesetze behaupten, daß sie existieren, nämlich Zahlen.

Meinst du „Dinge“ als Elemente der Realität oder als mathemat. Entität? Um das zu verdeutlichen, würde ich folgende Definition vorschlagen:

"Natur" resp. "Realität" ist das, was außerhalb des menschlichen Bewusstseins existiert und vom Bewusstsein prinzipiell abgebildet werden kann, wobei das Bewusstsein der Form nach Teil der Realität ist, dem Inhalt nach höchstens mit ihr korreliert, was i.d.R. nur empirisch verif./falsif. werden kann. Die Verbindung des Bewusstseins mit der Realität erfolgt über die Wahrnehmung.

Auf das o.a. Beispiel angewandt wäre die Menge der ganzen Zahlen Z = {… -2, -1, 0, 1, 2, …} ein Element des Bewusstseins, weil durch Definition festgelegt; sie korrelieren aber u.U. mit real abzählbaren Elementen der Realität. Die Richtigkeit (innerhalb des Bewusstseins) ist aber kein hinreichendes Kriterium für die reale Existenz außerhalb des Bewusstseins.

Zitat:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Demzufolge stellt sich zwei Fragen:
1) welchen Bezug zur Realität haben spezielle mathematische Entitäten - sogenannte Observable? diese Frage wird sehr praktisch, jedoch m.E. philosophisch nicht umfassend gelöst; z.B. repräsentiert eine Observable im Rahmen der QM eine messbare Größe, ohne dass der Prozess der Messung selbst definiert wird.
2) welche Bezug zur Realität haben mathematische Entitäten, die eben keine Observablen sind? diese Frage wird von den Physikern nicht gelöst, sie bleibt in gewisser Weise metaphysisch; da diese empirisch nicht fassbaren Entitäten jedoch fester Bestandteil der Physik sind und wir nicht ohne sie auskommen, stellt sich aber auch hier die Frage nach dem Bezug zur Realität.

Ich würde hier noch eine dritte Frage anschließen, die das Verhältnis Observable/nicht-Observable klären müsste:
3) Welchen Bezug haben mathematische Entitäten, die keine Observablen sind zu den Entitäten, die Observablen sind? Sind sie lediglich notwendige Hilfsgrößen, o.ä.?
z.B. da niemand weiß, was eigentlich „Zeit“ ist, könnte man davon ausgehen, dass „Zeit“ kein Element der Realität, sondern nur des Bewusstseins ist. Warum wird sie dann verwendet? Weil sie eine Hilfsgröße zur Darstellung von Prozessen ist, wie Mach es seinerzeit andeutete.
oder z.B. heißt es: „Der hohe Grad an mathematischer Struktur in Hilberträumen vereinfacht die Analysis ungemein …“.
Inwiefern wird "vereinfacht"? Hat diese Maßnahme (und ihr Produkt) einen Bezug zur Realität oder ist es eine rein mathematische Maßnahme?
index_razor



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Beitrag index_razor Verfasst am: 15. Jun 2019 20:22    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
In dieselbe Richtung zielen meine Argumente an Deep Purple: Wenn er nicht glaubt, daß die Gesetze der Arithmetik sinnlos oder falsch sind, dann muß er glauben, daß sie zutreffen. Dann muß er aber ebenfalls glauben, daß die Dinge existieren, von denen diese Gesetze behaupten, daß sie existieren, nämlich Zahlen.

Meinst du „Dinge“ als Elemente der Realität oder als mathemat. Entität?


Ich meinte als Elemente der natürlichen Zahlen. Das kann man von mir aus als "mathematische Entität" bezeichnen, aber klarer wird es dadurch nicht. Wir hatten das Wort "Realität" nicht einheitlich verwendet, aber Zahlen sind nach deiner Definition keine Elemente der Realität.

Zitat:

Auf das o.a. Beispiel angewandt wäre die Menge der ganzen Zahlen Z = {… -2, -1, 0, 1, 2, …} ein Element des Bewusstseins, weil durch Definition festgelegt;


Die natürlichen Zahlen (oder ganzen Zahlen) werden nicht durch Definitionen festgelegt. Welche Definitionen sollen das sein?

Es gibt unvollständige Beschreibungen der natürlichen Zahlen, z.B. mit Hilfe der Peano-Axiome. Diese können aber nicht definieren was natürliche Zahlen sind. Kein Axiomensystem kann das.

Diese Axiome besagen aber u.a., daß jede natürliche Zahl einen Nachfolger besitzt. Wenn natürliche Zahlen "Elemente des Bewußtseins" sind, was ist dann "der Nachfolger" eines "Elements des Bewußtseins"? Wie addiert man "Elemente des Bewußtseins"?

Insgesamt implizieren diese Axiome, daß es unendlich viele Zahlen gibt. Gibt es damit unendlich viele "Elemente des Bewußtseins"? Wo haben die alle Platz im Gehirn?

Zitat:

sie korrelieren aber u.U. mit real abzählbaren Elementen der Realität. Die Richtigkeit (innerhalb des Bewusstseins) ist aber kein hinreichendes Kriterium für die reale Existenz außerhalb des Bewusstseins.


Deine Behauptung natürliche Zahlen seien "Elemente des Bewußsteins" ist auch kein hinreichendes Kriterium, daß irgendein Zusammenhang zwischen Zahlen und dem menschlichen Bewußtsein existiert. Soweit ich das erkennen kann, hast du diese Behauptung komplett aus der Luft gegriffen.
Deep Purple



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Beitrag Deep Purple Verfasst am: 15. Jun 2019 21:40    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Deine Behauptung natürliche Zahlen seien "Elemente des Bewußsteins" ist auch kein hinreichendes Kriterium, daß irgendein Zusammenhang zwischen Zahlen und dem menschlichen Bewußtsein existiert. Soweit ich das erkennen kann, hast du diese Behauptung komplett aus der Luft gegriffen.

Warum reitest du so auf den Zahlen herum, sie waren doch nur ein Beispiel?
Es geht um das Verhältnis von Theorie und Realität, wie Tom das andeutet.

Einen Unterschied zw. den beiden Behauptungen gibt es schon:

Du folgerst aus der Tatsache, "daß die Gesetze der Arithmetik [nicht] sinnlos oder falsch sind, [...] daß die Dinge existieren, von denen diese Gesetze behaupten, daß sie existieren, nämlich Zahlen." Das habe ich bestritten - mit gutem Grund, wie ich meine (sie mögen wohl korrelieren)

Ich habe behauptet, dass die Zahlen als formalisierter Gegenstand der Mathematik zunächst nur im Bewusstsein (als Theorie o.ä.) vorhanden sind, wie alles, was wir erkenntnistheoretisch ver- und bearbeiten. Erkenntnis findet im Kopf statt. Das ist unmittelbar evident und nicht aus der Luft gegriffen.

Deshalb ist es mE so wichtig, begrifflich klar zw. der objektiven Realität (dem Original) und dem subjektiven Bewusstsein (der Abbildung) zu unterscheiden.
index_razor



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Beitrag index_razor Verfasst am: 15. Jun 2019 21:55    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
Deine Behauptung natürliche Zahlen seien "Elemente des Bewußsteins" ist auch kein hinreichendes Kriterium, daß irgendein Zusammenhang zwischen Zahlen und dem menschlichen Bewußtsein existiert. Soweit ich das erkennen kann, hast du diese Behauptung komplett aus der Luft gegriffen.

Warum reitest du so auf den Zahlen herum, sie waren doch nur ein Beispiel?


Das war nun mal gerade das Thema. Und sie sind als Gegenbeispiel m.E. recht gut geeignet, um Behauptungen wie deine zu widerlegen. Deswegen reite ich natürlich darauf rum.

Zitat:

Du folgerst aus der Tatsache, "daß die Gesetze der Arithmetik [nicht] sinnlos oder falsch sind, [...] daß die Dinge existieren, von denen diese Gesetze behaupten, daß sie existieren, nämlich Zahlen." Das habe ich bestritten - mit gutem Grund, wie ich meine (sie mögen wohl korrelieren)


Was für ein Grund soll das gewesen sein? Wenn die Aussage weder falsch noch sinnlos ist, dann ist sie wahr. Also trifft das, was sie behauptet, zu. Und sie behauptet nunmal die Existenz von etwas. Daß dieses etwas außerdem "ein Element des Bewußtseins" ist, hast du völlig aus der Luft gegriffen.

Du hast nicht mal versucht zu zeigen, wie diese Behauptung überhaupt mit den restlichen Gesetzen der Arithmetik vereinbar ist. Nochmal: gibt es unendlich viele Elemente des Bewußtseins? Wie addiert man Elemente des Bewußtseins? Wenn du darauf keine Antwort weißt, warum hältst du dann an deiner These fest?

Zitat:

Ich habe behauptet, dass die Zahlen als formalisierter Gegenstand der Mathematik zunächst nur im Bewusstsein (als Theorie o.ä.) vorhanden sind, wie alles, was wir erkenntnistheoretisch ver- und bearbeiten. Erkenntnis findet im Kopf statt. Das ist unmittelbar evident und nicht aus der Luft gegriffen.


"Formalisierter Gegenstand der Mathematik" ist eine hohle Phrase. Was soll das bedeuten? Du erfindest einfach weiter irgendwelche Behauptungen ohne jegliche Grundlage.
Deep Purple



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Beitrag Deep Purple Verfasst am: 15. Jun 2019 23:36    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Wenn die Aussage weder falsch noch sinnlos ist, dann ist sie wahr. Also trifft das, was sie behauptet, zu. Und sie behauptet nunmal die Existenz von etwas. Daß dieses etwas außerdem "ein Element des Bewußtseins" ist, hast du völlig aus der Luft gegriffen.

Die thermodynamische Zustandsgleichung idealer Gase ist wahr und nicht sinnlos.
Ist das ideale Gas dann real?
index_razor



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Beitrag index_razor Verfasst am: 16. Jun 2019 08:00    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
Wenn die Aussage weder falsch noch sinnlos ist, dann ist sie wahr. Also trifft das, was sie behauptet, zu. Und sie behauptet nunmal die Existenz von etwas. Daß dieses etwas außerdem "ein Element des Bewußtseins" ist, hast du völlig aus der Luft gegriffen.

Die thermodynamische Zustandsgleichung idealer Gase ist wahr und nicht sinnlos.
Ist das ideale Gas dann real?


Sie ist nicht wahr. Zumindest nicht für Gase, die es in der Natur gibt. (Sie ist eine Näherung, was bedeutet, daß man präzise wahre Aussagen über reale Gase formulieren kann, die der idealen Gleichung widersprechen, womit diese folglich nicht wahr sein kann.)

Übrigens von "real" in dem Sinne, den du definiert hast, habe ich nicht gesprochen. Im Gegenteil, gesagt habe ich "Zahlen sind nach deiner Definition keine Elemente der Realität." Was aber nicht heißt, daß sie nicht existieren oder "Elemente des Bewußtseins" sind.
TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 16. Jun 2019 09:38    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
... Es gibt dann aber eben auch Aussagen, die über diese rein sprachliche Ebene hinausweisen und insbs. auf messbare Phänomene verweisen, die selbst nicht mehr rein sprachlich erfassbar sind.


Kannst du das etwas genauer erläutern? Welche Phänomene sind nicht rein sprachlich erfaßbar?

Mir ging es lediglich darum, dass es einen Unterschied macht, ob man den Wahrheitsgehalt von Aussagen auf rein sprachlich/logischer Ebene analysieren kann, ob sich der Wahrheitsgehalt darüberhinaus auf Beobachtungen bezieht, oder ob es sich um abstrakte Entitäten handelt; letztlich kommt es darauf an, worüber eine Aussage spricht bzw. worauf sie sich bezieht.

Ich denke aber, dass wir uns da einig sind.

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Zitat:

Ich sehe jedoch, dass Physiker oft zweierlei in einen Topf werfen: einerseits die Unmöglichkeit, empirisch überprüfbare Aussagen über Entitäten zu formulieren, die selbst nicht empirisch gegeben sind - andererseits die Behauptung, Physik würde sich ausschließlich mit empirisch zugänglichen Phänomenen und diesbzgl. überprüfbare Aussagen befassen. Letzteres ist - und ich denke, da stimmen wir ebenfalls überein - schlichtweg falsch!


Ja, ich denke auch, daß dies falsch ist. Ich glaube auch, daß es hoffnungslos ist, eine scharfe Grenze zwischen "empirisch" und "theoretisch" in der Menge der "Entitäten" zu ziehen ...

Auch da haben wir Übereinstimmung.

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Zitat:

Theoretische Physik wird heute zum ganz großen Teil mittels mathematischer Entitäten formuliert, deren Bezug zur Empirie nur sehr indirekt gegeben ist.

Demzufolge stellt sich zwei Fragen:
1) welchen Bezug zur Realität haben spezielle mathematische Entitäten - sogenannte Observable? diese Frage wird sehr praktisch, jedoch m.E. philosophisch nicht umfassend gelöst; z.B. repräsentiert eine Observable im Rahmen der QM eine messbare Größe, ohne dass der Prozess der Messung selbst definiert wird


Hältst du das für einen Makel? Ich bin der Meinung Begriffe wie "Messung" und "Observable" haben in den Grundlagen der Theorie ohnehin nichts zu suchen. Welche Größen auf welche Weise gemessen werden können, muß aus der Theorie abgeleitet werden. Es läßt sich nicht umgekehrt die Theorie auf dem Verständnis aufbauen welche Prozesse "Messungen" sind und welche Ergebnisse diese haben können.

Nicht für einen Makel, jedoch für problembehaftet bei der Analyse der Aussagen und des Wahrheitsgehaltes.

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Der Begriff "Observable" ist ja eigentlich auch kein mathematischer Begriff. Er ist in der QM weitgehend synonym zu "hermitescher Operator", was allerdings nicht identisch ist mit "läßt sich beobachten", ist also mehr oder weniger ein Etikettenschwindel.

Ich versuche zumeist, genau das zu vermeiden *) ein vernünftiger Sprachgebrauch ist m.E. Observable = prinzipiell beobachtbare Größe, repräsentiert durch einen selbstadjungierten Operator

*) ganz allgemein leidet die Darstellung der QM oft darunter, dass man einen komplizierten Sachverhalt irreführend vereinfacht und damit Kompliziertheit und Präzision durch Einfachheit und Irreführung ersetzt

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Zitat:

2) welche Bezug zur Realität haben mathematische Entitäten, die eben keine Observablen sind?


Meine Auffassung ist, daß beide Fragen nicht scharf voneinander abgegrenzt werden können, und auch nicht verschiedene Antworten haben. Jede Aussage über die Eigenschaften eines Objekts in der Theorie überprüfen wir auf dieselbe Weise: wir leiten so lange deduktiv Konsequenzen ab, bis wir bei irgendeiner Aussage landen, die wir für evident halten. Wenn wir dabei nur ein paar einfache logische Schritte machen, dann sagen wir das Objekt ist "direkt" beobachtbar. Wenn die Ableitung lang und kompliziert ist und viele unabhängige Annahmen benötigt, dann sagen wir es ist "höchstens sehr indirekt beobachtbar". Ein fundamentaler Unterschied ist das m.E. nicht.

Ja, da stimme ich dir weitgehend zu.

Tatsache ist jedoch, dass dabei die Möglichkeit verloren geht, direkt überprüfbar Aussagen über derartige Entitäten abzuleiten.

Während der Gegenstand der Anschauung und der Gegenstand des Formalismus in der Newtonschen Mechanik sozusagen „isomorph“ sind - Massenpunkt und Vektor - ist dies im Falle von quantisieren Eichtheorien eher nicht mehr gegeben ...

Der Unterschied ist nicht fundamental, jedoch sind viele (philosophische) Überlegungen, die anhand der Newtonschen Mechanik und des damit einhergehenden Weltbildes entwickelt wurden, schlichtweg nicht mehr anwendbar. Das fängt bei so einfachen Begriffen wir „Objekt“, „Ding“, „Substanz“ usw. an.

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Zitat:

Wenn wir „Natur“ bzw. „Realität“ als umfassender als „empirisch zugängliche Phänomene“ begreifen, und andererseits unser physikalischen Theorien weiter gefasst sind als eine reine Ansammlung empirisch überprüfbarer Sätze, dann stellt sich doch unmittelbar die Frage dem Bezug im Sinne von (2).


Die einzige Antwort, die ich für möglich halte, habe ich schon gegeben: Es existieren genau die Dinge in der Realität, von denen eine wahre Theorie behauptet, daß sie existieren. Da einige dieser Dinge, deren Existenz behauptet wird, nur "sehr indirekt beobachtbar" sind und die zugehörige Theorie nicht verifizierbar ist, werden wir nie sicher sein können, welche Dinge das sind. Mit anderen Worten, wir werden eben nie mit Sicherheit wissen ob eine nichtfalsifizierte Theorie wahr ist.

Da stimme ich zunächst zu, gehe jedoch noch einen Schritt weiter - s.o.:

Nehmen wir eine hypothetische konsistente Zusammenführung von Quantenfeldtheorie und Gravitation; ein recht konventioneller Kandidat wäre der Ansatz der „Geometrodynamik mit asymptotic safety“.

Wir würden nun - unter der nie beweisbaren Voraussetzung, dass diese Theorie zutrifft - Existenzaussagen machen wollen, d.h. darüber sprechen wollen dass „genau genau die Dinge in der Realität existieren, von denen [diese] Theorie behauptet, daß sie existieren.

Welche „Dinge“ wären das?

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Wir können jedenfalls nicht einfach per Beschluß festlegen, daß die "indirekt beobachtbaren" Dinge aus unserer gerade favorisierten Theorie existieren.

Klar.

Ich denke, was wir - als Platonisten - sagen können ist, dass die empirische Bestätigung einer Theorie uns gewisse Hinweise darauf liefert, dass gewisse formale Konstrukte der Theorie einen gewissen Bezug zur real existierenden Wirklichkeit / Natur haben.

Das ist nicht sehr viel, aber weiter würde ich bei einer vorsichtigen Grundhaltung nicht gehen wollen (Tegmark ist da anders gestrickt ;-)

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Beitrag TomS Verfasst am: 16. Jun 2019 09:46    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Ich habe behauptet, dass die Zahlen als formalisierter Gegenstand der Mathematik zunächst nur im Bewusstsein vorhanden sind, wie alles, was wir erkenntnistheoretisch ver- und bearbeiten. Erkenntnis findet im Kopf statt. Das ist unmittelbar evident und nicht aus der Luft gegriffen.

Zunächst ja.

Wenn du bei dieser konstruktivistischen Sichtweise stehen bleibst, dann nimmst du in etwa den Standpunkt Brouwers ein. Viele Mathematiker bleiben dabei nicht stehen und vertreten einen eher platonistischen Standpunkt bzgl. der Existenz mathematischer Strukturen.

Beide Standpunkte können plausibel vertreten sowie plausibel bestritten werden - es gibt diverse Literatur dazu - nicht jedoch bewiesen oder widerlegt.

Für die Physik spielt das zunächst eine untergeordnete Rolle; eine Ausnahme ist sicherlich Tegmarks Ansatz.

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Beitrag TomS Verfasst am: 16. Jun 2019 10:01    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
... würde ich folgende Definition vorschlagen:

"Natur" resp. "Realität" ist das, was außerhalb des menschlichen Bewusstseins existiert und vom Bewusstsein prinzipiell abgebildet werden kann, wobei das Bewusstsein der Form nach Teil der Realität ist, dem Inhalt nach höchstens mit ihr korreliert, was i.d.R. nur empirisch verif./falsif. werden kann. Die Verbindung des Bewusstseins mit der Realität erfolgt über die Wahrnehmung.

Die prinzipielle Abbildbarkeit im Bewusstsein ist für mich kein Kriterium, dass etwas real existieren kann. Warum sollen nur Entitäten existieren können, die wir prinzipiell gedanklich erfassen können?

Die Verbindung des Bewusstseins mit der Realität erfolgt sicher nicht nur über die Wahrnehmung, wie die moderne Physik tagtäglich zeigt. Z.B. besteht der Erfolg der Quantenmechanik gerade darin, Strukturen und Methoden zur Anwendung zu bringen, die primär nichts mit Wahrnehmung zu tun haben. Hätten die Väter der Quantenmechanik sich bei der Konstruktion nur durch Wahrnehmung leiten lassen, gäbe es heute keine Quantenmechanik.

Das ist gerade mein großer Kritikpunkt an diesen oberflächlichen positivistischen Aussagen von Bohr et al. - nunmehr nachgeplappert seit fast einem Jahrhundert. Man schlage ein Buch über Quantenmechanik auf und streiche alles weg, was nicht direkt etwas mir Wahrnehmung, Phänomen, Messung etc. zu tun hat. Außer der Einleitung wird kaum etwas übrig bleiben.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Ich würde hier noch eine dritte Frage anschließen, die das Verhältnis Observable/nicht-Observable klären müsste:
3) Welchen Bezug haben mathematische Entitäten, die keine Observablen sind zu den Entitäten, die Observablen sind? Sind sie lediglich notwendige Hilfsgrößen, o.ä.?

Auf formaler Ebene ist der Bezug relativ klar, da man die mathematischen Größen, die Observablen entsprechen, aus den allgemeinen Größen konstruiert.

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
z.B. da niemand weiß, was eigentlich „Zeit“ ist, könnte man davon ausgehen, dass „Zeit“ kein Element der Realität, sondern nur des Bewusstseins ist.

Die Physiker, die sich mit Quantengravitation befassen, haben sehr gut verstanden, dass der naive Zeitbegriff im Rahmen einer fundamentalen Theorie nicht mehr zutreffend ist. Es gibt auch diverse Ansätze für prozessuale Definitionen, aus denen ein Zeitbegriff, wie er z.B. im Rahmen der ART verwendet wird, als makroskopische bzw. klassische Näherung folgt.

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Beitrag index_razor Verfasst am: 16. Jun 2019 10:51    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
... Es gibt dann aber eben auch Aussagen, die über diese rein sprachliche Ebene hinausweisen und insbs. auf messbare Phänomene verweisen, die selbst nicht mehr rein sprachlich erfassbar sind.


Kannst du das etwas genauer erläutern? Welche Phänomene sind nicht rein sprachlich erfaßbar?

Mir ging es lediglich darum, dass es einen Unterschied macht, ob man den Wahrheitsgehalt von Aussagen auf rein sprachlich/logischer Ebene analysieren kann, ob sich der Wahrheitsgehalt darüberhinaus auf Beobachtungen bezieht, oder ob es sich um abstrakte Entitäten handelt; letztlich kommt es darauf an, worüber eine Aussage spricht bzw. worauf sie sich bezieht.

Ich denke aber, dass wir uns da einig sind.


Klingt so, ja.

Zitat:

Zitat:

Hältst du das für einen Makel? Ich bin der Meinung Begriffe wie "Messung" und "Observable" haben in den Grundlagen der Theorie ohnehin nichts zu suchen. Welche Größen auf welche Weise gemessen werden können, muß aus der Theorie abgeleitet werden. Es läßt sich nicht umgekehrt die Theorie auf dem Verständnis aufbauen welche Prozesse "Messungen" sind und welche Ergebnisse diese haben können.

Nicht für einen Makel, jedoch für problembehaftet bei der Analyse der Aussagen und des Wahrheitsgehaltes.


Ok, das kann man wohl laut sagen. Für mich spricht das dafür, Aussagen, die explizit Bezug auf Meßergebnisse nehmen, wie die heute gängigen Formulierungen der Bornschen Regel, aus den axiomatischen Grundlagen zu entfernen. Man sollte sie höchstens zur Motivation verwenden und klar sagen, daß sie überhaupt nur auf idealisierte Messungen anwendbar sind, wie z.B. den Stern-Gerlach-Versuch.

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Der Begriff "Observable" ist ja eigentlich auch kein mathematischer Begriff. Er ist in der QM weitgehend synonym zu "hermitescher Operator", was allerdings nicht identisch ist mit "läßt sich beobachten", ist also mehr oder weniger ein Etikettenschwindel.

Ich versuche zumeist, genau das zu vermeiden *) ein vernünftiger Sprachgebrauch ist m.E. Observable = prinzipiell beobachtbare Größe, repräsentiert durch einen selbstadjungierten Operator


Es gibt aber auch viele Meßergebnisse, die durch keine hermiteschen Operatoren repräsentiert werden, z.B. die Temperatur eines Gases im Gleichgewichtszustand oder die mittlere Lebensdauer einer Sorte instabiler Teilchen.

Zitat:

*) ganz allgemein leidet die Darstellung der QM oft darunter, dass man einen komplizierten Sachverhalt irreführend vereinfacht und damit Kompliziertheit und Präzision durch Einfachheit und Irreführung ersetzt


Auch das kann man ruhig laut (oder größer) sagen.

Zitat:

Während der Gegenstand der Anschauung und der Gegenstand des Formalismus in der Newtonschen Mechanik sozusagen „isomorph“ sind - Massenpunkt und Vektor - ist dies im Falle von quantisieren Eichtheorien eher nicht mehr gegeben ...


Ich glaube das verstehe ich nun nicht. Der "Gegenstand der Anschauung" ist ja nicht das, was in der Natur existiert. Daß quantisierte Eichtheorien unser Vorstellungsvermögen weit mehr strapazieren, als dreidimensionale Vektorräume ist natürlich klar. Aber ich sehe in dieser Feststellung noch keine Implikationen über die Frage, welche Dinge es real gibt.

Zitat:

Der Unterschied ist nicht fundamental, jedoch sind viele (philosophische) Überlegungen, die anhand der Newtonschen Mechanik und des damit einhergehenden Weltbildes entwickelt wurden, schlichtweg nicht mehr anwendbar. Das fängt bei so einfachen Begriffen wir „Objekt“, „Ding“, „Substanz“ usw. an.


Hm, für mich sind das auch lediglich sprachliche Platzhalter, analog zu gebundenen Variablen in formalen Sprachen. Statt , sagt man eben umgangssprachlich "Jedes Ding, welches die Eigenschaft F hat, hat auch die Eigenschaft G" usw. Also ist ein "Ding" einfach das, wovon gerade die Rede ist. Mit dieser Auffassung von "Dingen" hat man auch in der QM oder in jeder beliebigen Theorie keine Probleme. Diese "Dinge" können je nach Theorie sowohl massive Körper, "Quantenobjekte", Eichfelder oder Zahlen sein.


Zitat:

Nehmen wir eine hypothetische konsistente Zusammenführung von Quantenfeldtheorie und Gravitation; ein recht konventioneller Kandidat wäre der Ansatz der „Geometrodynamik mit asymptotic safety“.

Wir würden nun - unter der nie beweisbaren Voraussetzung, dass diese Theorie zutrifft - Existenzaussagen machen wollen, d.h. darüber sprechen wollen dass „genau genau die Dinge in der Realität existieren, von denen [diese] Theorie behauptet, daß sie existieren.

Welche „Dinge“ wären das?


Das weiß ich nicht, da ich die Theorie nicht kenne. Aber um ein mögliches Mißverständnis auszuräumen: Ich spreche nicht davon über die Theorie hinaus noch weitere Existenzaussagen über die Natur zu machen. Ich spreche nur von den Existenzaussagen, die die Theorie -- in diesem Fall die Geometrodynamik mit asymptotic safety -- bereits macht. Wenn du voraussetzt, daß diese Theorie in der Natur wahr ist, dann existiert ja alles, dessen Existenz sie behauptet. Sonst wäre doch mindestens eine ihrer Aussagen falsch.


Zitat:

Ich denke, was wir - als Platonisten - sagen können ist, dass die empirische Bestätigung einer Theorie uns gewisse Hinweise darauf liefert, dass gewisse formale Konstrukte der Theorie einen gewissen Bezug zur real existierenden Wirklichkeit / Natur haben.

Das ist nicht sehr viel, aber weiter würde ich bei einer vorsichtigen Grundhaltung nicht gehen wollen (Tegmark ist da anders gestrickt ;-)


Also was weder Platonisten noch Positivisten noch Tegmark oder sonstwer besitzen, ist unfehlbares Wissen über irgendwas. Das gilt eben nach meiner Ansicht, sowohl für das Wissen über die Natur als auch für das Wissen über abstrakte Objekte wie z.B. mathematische Strukturen. Woran ich trotzdem festhalten möchte, ist mein unsicheres Wissen über die objektive Existenz mathematischer Objekte. Ganz einfach aus dem Grund, daß ich 1) bis jetzt nicht den geringsten Grund zum Zweifel daran erkennen kann und 2) sehr viel Sicherheit in die Gültigkeit z.B. der Gesetze der Arithmetik besitze.

Beobachtung kann mein Wissen über die Natur ohnehin nicht rechtfertigen, macht es also nicht "sicherer". (Nach Popper kann durch Beobachtung dieses Wissen höchstens erschüttert werden.) Und ganz sicher übertrumpft keine mir zugängliche Beobachtung meine Überzeugung in Bezug auf die Gültigkeit der Arithmetik. Im Gegenteil, ich kann mir im Augenblick nicht mal eine Beobachtung vorstellen, die mich überzeugen würde, daß natürliche Zahlen nicht existieren oder z.B. identisch mit "Elementen des Bewußtseins" sind.
index_razor



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Beitrag index_razor Verfasst am: 16. Jun 2019 12:26    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Ich habe behauptet, dass die Zahlen als formalisierter Gegenstand der Mathematik zunächst nur im Bewusstsein vorhanden sind, wie alles, was wir erkenntnistheoretisch ver- und bearbeiten. Erkenntnis findet im Kopf statt. Das ist unmittelbar evident und nicht aus der Luft gegriffen.

Zunächst ja.


Was bedeutet eigentlich dieses "zunächst"? Werden Zahlen im Gehirn geboren und wandern dann irgendwann nach aus?

Zitat:

Wenn du bei dieser konstruktivistischen Sichtweise stehen bleibst, dann nimmst du in etwa den Standpunkt Brouwers ein.


Und er muß bestimmte arithmetische Gesetze leugnen, sowie Teile der klassischen Logik und Semantik und durch recht unplausible Annahmen über "den menschlichen Geist" oder die "Elemente" unseres Bewußsteins ersetzen (viel unplausibler als alles, was er seinen Thesen opfern müßte). Dazu scheint er sich aber auch nicht durchringen zu wollen. Deswegen ist seine Position m.E. inkonsistent.

Zitat:

Viele Mathematiker bleiben dabei nicht stehen und vertreten einen eher platonistischen Standpunkt bzgl. der Existenz mathematischer Strukturen.

Beide Standpunkte können plausibel vertreten sowie plausibel bestritten werden - es gibt diverse Literatur dazu - nicht jedoch bewiesen oder widerlegt.


Wie denn? Wie vertritt man diese Form des intuitionistischen Standpunkts plausibel? Das ist mir absolut schleierhaft. Man kann ihn natürlich nicht absolut sicher widerlegen, aber das gilt auch für Flache-Erde-Theorien etc., die offenbar auch immer noch vertreten werden können. Plausibel wird es dadurch aber nicht. Flache-Erde-Theoretiker können zumindest den Satz vom ausgeschlossenen Dritten akzeptieren. Das macht in meinen Augen ihren Standpunkt um einiges plausibler.


Zuletzt bearbeitet von index_razor am 16. Jun 2019 12:28, insgesamt 2-mal bearbeitet
Deep Purple



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Beitrag Deep Purple Verfasst am: 16. Jun 2019 12:26    Titel: Antworten mit Zitat

Zitat:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Wenn du bei dieser konstruktivistischen Sichtweise stehen bleibst, dann nimmst du in etwa den Standpunkt Brouwers ein. Viele Mathematiker bleiben dabei nicht stehen und vertreten einen eher platonistischen Standpunkt bzgl. der Existenz mathematischer Strukturen.

Nein, nicht Brouwers‘ Intuitionismus.
Mal kurz formuliert würde ich es so ausdrücken: entdeckt werden Strukturen und Prozesse in der Realität, entwickelt werden dafür formalisierte Beschreibungen, tw. auch abstrahiert aus der Natur und weiterentwickelt. Die Strukturen der Realität verdanken sich aber nicht einer intelligiblen mathem. Gesetzmäßigkeit, sondern (i.d.R.) natürlichen wiederkehrenden Wirkungen, Konstellationen und Randbedingungen: der Natur eine intelligible platonistische Entität zu unterstellen, erfordert eine Art metaphysische Präexistenz idealer mathem. Strukturen; wie ist die Begründung dafür? Und wie ordnest du die von dir angesprochenen Nicht-Observablen hier ein?

Zitat:
Die prinzipielle Abbildbarkeit im Bewusstsein ist für mich kein Kriterium, dass etwas real existieren kann. Warum sollen nur Entitäten existieren können, die wir prinzipiell gedanklich erfassen können?

War auch nicht so gemeint; damit soll lediglich herausgestellt werden, dass Realität und Bewusstsein zwei verschiedene Entitäten sind, aber nicht beziehungslos zueinander stehen. Das eine ist die Ontologie, das andere die Epistemologie und die Frage ist: welchen Bezug haben die epistemischen Elemente zu ihren vermeintlichen, tatsächlichen oder sogar fehlenden Korrelaten der Ontologie?

Zitat:
Die Verbindung des Bewusstseins mit der Realität erfolgt sicher nicht nur über die Wahrnehmung, wie die moderne Physik tagtäglich zeigt. Z.B. besteht der Erfolg der Quantenmechanik gerade darin, Strukturen und Methoden zur Anwendung zu bringen, die primär nichts mit Wahrnehmung zu tun haben. Hätten die Väter der Quantenmechanik sich bei der Konstruktion nur durch Wahrnehmung leiten lassen, gäbe es heute keine Quantenmechanik.

„Nur“ habe ich auch nicht behauptet. Aber „Methoden zur Anwendung“ haben sich entwickelt, „Wahrnehmung“ ist grundsätzlich.

Zitat:
Die Physiker, die sich mit Quantengravitation befassen, haben sehr gut verstanden, dass der naive Zeitbegriff …

War nur ein Beispiel für Hilfsgrößen oder Nichtobservablen, o.ä. Welche Rolle spielen sie im Erkenntnisprozess?
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 16. Jun 2019 13:10    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Ich habe behauptet, dass die Zahlen als formalisierter Gegenstand der Mathematik zunächst nur im Bewusstsein vorhanden sind, wie alles, was wir erkenntnistheoretisch ver- und bearbeiten. Erkenntnis findet im Kopf statt. Das ist unmittelbar evident und nicht aus der Luft gegriffen.

Zunächst ja.


Was bedeutet eigentlich dieses "zunächst"? Werden Zahlen im Gehirn geboren und wandern dann irgendwann nach aus?

Zunächst“ bezieht sich nicht auf die Zahlen, sondern auf die Argumentation bzgl. der Zahlen.

Das geozentrische Weltbild funktioniert zunächst recht gut, bei genauerer Betrachtung wird es extrem kompliziert und unnatürlich - Stichwort Epizyklen. Es ist nicht so, dass Epizyklen zu Ellipsen werden ;-)

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Wie vertritt man diese Form des intuitionistischen Standpunkts plausibel? Das ist mir absolut schleierhaft.

Indem man Zahlen als rein mentales Konstrukt voraussetzt und dann Mathematik betreibt. Was dir dann fehlt sind Dinge, an die du dich gewöhnt hast, jedoch nichts, was logisch zwingend vorhanden sein müsste.

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Beitrag index_razor Verfasst am: 16. Jun 2019 13:50    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
index_razor hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Ich habe behauptet, dass die Zahlen als formalisierter Gegenstand der Mathematik zunächst nur im Bewusstsein vorhanden sind, wie alles, was wir erkenntnistheoretisch ver- und bearbeiten. Erkenntnis findet im Kopf statt. Das ist unmittelbar evident und nicht aus der Luft gegriffen.

Zunächst ja.


Was bedeutet eigentlich dieses "zunächst"? Werden Zahlen im Gehirn geboren und wandern dann irgendwann nach aus?

Zunächst“ bezieht sich nicht auf die Zahlen, sondern auf die Argumentation bzgl. der Zahlen.

Das geozentrische Weltbild funktioniert zunächst recht gut, bei genauerer Betrachtung wird es extrem kompliziert und unnatürlich - Stichwort Epizyklen. Es ist nicht so, dass Epizyklen zu Ellipsen werden ;-)


Aber wenn ich Deep Purple richtig verstehe, bestreitet er, daß Zahlen und Ideen über Zahlen verschiedene Dinge sind. Damit trifft diese Analogie nicht zu. Er behauptet ja Zahlen seien "Elemente unseres Bewußteins".

Zitat:

index_razor hat Folgendes geschrieben:

Wie vertritt man diese Form des intuitionistischen Standpunkts plausibel? Das ist mir absolut schleierhaft.

Indem man Zahlen als rein mentales Konstrukt voraussetzt und dann Mathematik betreibt. Was dir dann fehlt sind Dinge, an die du dich gewöhnt hast, jedoch nichts, was logisch zwingend vorhanden sein müsste.


Das kann man natürlich so sehen. Aber genau dasselbe kann man über die Flache-Erde-Theorie sagen. Es ist keineswegs logisch zwingend notwendig, daß die Erde rund ist. Trotzdem würden wir nicht behaupten, daß wir uns lediglich an die Idee ihrer Rundheit "gewöhnt" hätten. Wir glauben schon, daß die Behauptung ihrer Rundheit korrekter über die tatsächlichen Verhältnisse Auskunft gibt, als die ihrer Flachheit. Und nicht zu vergessen: zu den Dingen an die ich mich gewöhnt habe, zählen in diesem Fall auch logische Prinzipien wie tertium non datur, und die Äquivalenz von P und nicht-nicht-P. Das ist deutlich fundamentaler als irgendwelche Eigenschaften eines Himmelskörpers.

Dessen ungeachtet ist natürlich die Verfolgung des intuitionistischen Programms ein völlig legitimes intellektuelles Betätigungsfeld. Man kann ohne weiteres die gesamte Mathematik sowie die klassische Logik nur als Spiel betrachten und sich ausmalen, wie weit man dessen Regeln ändern kann bis es unmöglich wird weiterzuspielen und dann damit seinen Spaß haben. Nur sehe ich keinen Grund anzunehmen, daß dieses Vorhaben uns mehr über die Realität (im weiteren Sinne von "allem was existiert") verrät, als z.B. die Spielereien der Flache-Erde-Theoretiker oder die Schöpfungen von Science-Fiction und Fantasy-Autoren. (Das meine ich mit "unplausibel".) Siehst du einen?
Frankx



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Beitrag Frankx Verfasst am: 16. Jun 2019 20:07    Titel: Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Diese Axiome besagen aber u.a., daß jede natürliche Zahl einen Nachfolger besitzt. Wenn natürliche Zahlen "Elemente des Bewußtseins" sind, was ist dann "der Nachfolger" eines "Elements des Bewußtseins"? Wie addiert man "Elemente des Bewußtseins"?

Insgesamt implizieren diese Axiome, daß es unendlich viele Zahlen gibt. Gibt es damit unendlich viele "Elemente des Bewußtseins"? Wo haben die alle Platz im Gehirn?


Das ist imho nur ein nur ein scheinbares Problem und liegt an der unglücklichen Formulierung der Axiome und (später auch der Beweise a la: "Es lässt sich zeigen, dass unter Voraussetzung XY ein Z existiert.")

Ersetze einfach: "Jede natürliche Zahl besitzt einen Nachfolger." durch "Für jede natürliche Zahl lässt sich ein Nachfolger berechnen."
Für die oben angedeuteten Beweise sollte besser formuliert werden: "Es lässt sich zeigen, dass unter Voraussetzung XY ein Z berechnet/konstruiert werden kann."

Damit wird klar, das jeder "Nachfolger" und jedes "Z" ein geistiges Produkt ist und nicht per se existiert. Es wird erst dann zur Realität und (und selbst dann auch vorerst nur in unseren Köpfen) wenn eben ein "Nachfolger" oder "Z" berechnet oder konstruiert werden. Die Möglichkeit etwas zu tun impliziert nicht automatisch die Existenz des Ergebnisses.
Wenn ich prinzipiell ein Haus bauen kann, existiert es auch erst, wenn ich es gebaut habe und vorher höchstens in einem Kopf.

Nach dieser Ansichtsweise "existiert" das ganze platonische Reich nur in unseren Köpfen.


.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 17900

Beitrag TomS Verfasst am: 16. Jun 2019 22:24    Titel: Antworten mit Zitat

Deep Purple hat Folgendes geschrieben:
Mal kurz formuliert würde ich es so ausdrücken: entdeckt werden Strukturen und Prozesse in der Realität, entwickelt werden dafür formalisierte Beschreibungen, tw. auch abstrahiert aus der Natur und weiterentwickelt. Die Strukturen der Realität verdanken sich aber nicht einer intelligiblen mathem. Gesetzmäßigkeit, sondern (i.d.R.) natürlichen wiederkehrenden Wirkungen, Konstellationen und Randbedingungen: der Natur eine intelligible platonistische Entität zu unterstellen, erfordert eine Art metaphysische Präexistenz idealer mathem. Strukturen

Wenn - wie du schreibst - Strukturen entdeckt werden, dann liegt eine - von dir genannte - metaphysische Präexistenz dieser Stukturen vor. Damit „verdanken“ sich die Strukturen der Realität natürlich nicht mathematischen Gesetzmäßigkeiten; das hat hier auch niemand behauptet.

Du verwechselst immer noch (A) und (C). Dass viele Mathematiker im platonistischen Sinne (A) an die unabhängige Existenz mathematischer Strukturen glauben, hat zunächst nichts damit zu tun, dass viele Physiker im Sinne von (C) an die unabhängige Existenz einer Realität / Natur glauben, die sie epistemisch und formal mathematisch erfassen und beschreiben.

Wenn Physiker jedoch diese Realität / Natur mathematisch erfassen können - was offenbar der Fall ist - dann darf man vermuten, dass die Realität / Natur gewisse mathematische Strukturen aufweist, die wir eben in ihr erkennen.

Das Problem entsteht lediglich dadurch, dass du die Mathematik als rein menschengemacht ansiehst und deswegen die Sichtweise ablehnst, dass die Natur mathematische Gesetzmäßigkeiten aufweist. Wenn du umgekehrt die Denkweise zulässt, dass die Natur unabhängig von uns existiert und unabhängig von uns gewissen Regeln gehorcht, dann ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass wir diese Regeln in gewissen Grenzen erkennen.

Dass es sich gerade im mathematisch beschreibbare Regeln handelt ist ein interessanter Aspekt; es ist eben nicht englisch, chinesisch oder anthroposophisch, spiritistisch oder kabbalistisch oder sonst irgendwas, sondern mathematisch.

Die Natur folgt diesen Regeln unabhängig von uns und schon lange vor unserer Existenz, wie wir aus Beobachtungen ferner Galaxien und schwarzer Löcher ableiten können. Die Naturgesetze, die wir heute z.B. mittels Eichtheorien formalisieren, waren doch schon existent und in Kraft, bevor wir die Eichtheorien formuliert haben. In diesem Sinne (C) „entdecken“ Physiker heute mathematische Strukturen „in“ den Naturgesetzen - genauer, in den formalisierten Annäherungen an die tatsächlichen Naturgesetze. Letztere werden wir nie vollumfänglich und exakt erkennen können, wir können uns ihnen jedoch immer weiter näheren; dieser Annäherungsprozess - im wesentlichen die physikalische Forschung - ist natürlich Menschenwerk, nicht jedoch Gegenstand der der Annäherung selbst, also das „tatsächliche Naturgesetz“.

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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.


Zuletzt bearbeitet von TomS am 17. Jun 2019 07:54, insgesamt 3-mal bearbeitet
TomS
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Beiträge: 17900

Beitrag TomS Verfasst am: 16. Jun 2019 22:30    Titel: Antworten mit Zitat

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Ersetze einfach: "Jede natürliche Zahl besitzt einen Nachfolger." durch "Für jede natürliche Zahl lässt sich ein Nachfolger berechnen."
Für die oben angedeuteten Beweise sollte besser formuliert werden: "Es lässt sich zeigen, dass unter Voraussetzung XY ein Z berechnet/konstruiert werden kann."

Damit wird klar, das jeder "Nachfolger" und jedes "Z" ein geistiges Produkt ist und nicht per se existiert.

Das ist genau der Ansatz einiger Konstruktivisten: geeignete, jedoch formal äquivalente Umformulierung der mathematischen Aussagen, so dass diese nicht mehr von etwas Präexistentem sondern etwas im Moment des Aussprechens Konstruiertem reden.

Frankx hat Folgendes geschrieben:
Nach dieser Ansichtsweise "existiert" das ganze platonische Reich nur in unseren Köpfen.

Ja, klar.

Wie gesagt, beide Sichtweisen sind in sich konsistent, und beide Sichtweisen haben wenig mit der Frage (C) zu tun.

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