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Zu Schrödingers Kritik an der Kopenhagener Interpretation
 
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index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
Beiträge: 3259

Beitrag index_razor Verfasst am: 10. Jul 2021 13:36    Titel: Zu Schrödingers Kritik an der Kopenhagener Interpretation Antworten mit Zitat

In diesem Thread wurde auf einen Wikipediaartikel verwiesen, der sich mit Schrödingers Kritik an der Kopenhagener Interpretation auseinandersetzt. Der Artikel behauptet:

"Das Paradoxon besteht erstens darin, dass in dem Gedankenexperiment eine Katze in einen Zustand gebracht wird, in dem sie nach der Kopenhagener Deutung gleichzeitig „lebendig“ und „tot“ ist. Zweitens würde, ebenfalls nach der Kopenhagener Deutung, dieser unbestimmte Zustand so lange bestehen bleiben, bis er von einem Beobachter untersucht wird. Dann erst würde die Katze auf einen der Zustände „lebendig“ oder „tot“ festgelegt. Beides widerspricht der Anschauung und Alltagserfahrung mit makroskopischen Dingen.

Laut dem dem letzten Satz soll es sich zwar lediglich um einen Widerspruch mit der Alltagserfahrung handeln. Die Schilderung des Paradoxons stellt aber eine viel absurdere Situation dar, so als hätte die Katze widersprüchliche Eigenschaften und wäre gleichzeitig lebendig und nicht lebendig.

Ich glaube nicht, daß in Schrödingers Darstellung der Kopenhagener Interpretation die Katze sowohl tot als auch lebendig ist. Die relevante Bemerkung ist folgende:

"Die -Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und tote Katze zu gleichen Teilen gemischt ist." (Die Gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik).

Dies könnte man ohne Kontext wie "tot und lebendig" lesen. Diese Auslegung widerspricht aber komplett dem restlichen Teil des Abschnitts. Darin ist stets nur von einer makroskopischen Unschärfe einer Größe die Rede (von Schrödinger "Verwaschenheit" genannt, aber es ist klar, was er meint). Schrödinger will zeigen, daß die Unschärfe keine objektive Eigenschaft des Systems sein kann, weil sie in bestimmten Situationen nicht der viel geringeren beobachteten Unsicherheit entspricht. Aber selbst wenn eine Situation mit objektiv unscharfen Größe vorläge, wäre nichts daran widersprüchlich oder hanebüchen. Schrödinger selbst stellt dies am Ende des Abschnitts klar:

"Das Typische an diesen Fällen ist, daß eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetzt, die sich dann durch direkte Beobachtung entscheiden läßt. Das hindert uns in so naiver Weise ein "verwaschenes Modell" als Abbild der Wirklichkeit gelten zu lassen. An sich enthielte es nichts Unklares oder Widerspruchsvolles. Es ist ein Unterschied zwischen einer verwackelten oder unscharf eingestellten Photographie oder einer Aufnahme von Wolken und Nebelschwaden." (a.a.O., fette Hervorhebung von mir.)

Worum es Schrödinger eigentlich geht, ist nicht lediglich auf einen scheinbaren Widerspruch mit der Alltagserfahrung oder Anschauung hinzuweisen. Es geht ihm um eine fundamentale Schwierigkeit bei der Interpretation der Quantenmechanik: Einerseits kann die Wellenfunktion nicht als Gibbssches Ensemble interpretiert werden, dessen Unschärfe lediglich aus der Unkenntnis von hypothetisch zugrundeliegenden streuungsfreien Zustände resultiert. Und andererseits, wie er mit seinem Gedankenexperiment zeigen will, kann man die Unschärfen selbst auch nicht als objektive Eigenschaften ansehen.

Das Problem würde selbstverständlich verschwinden, wenn man erklären kann, daß die theoretischen Unsicherheiten mit den beobachteten in jeder realen Situation übereinstimmten.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18018

Beitrag TomS Verfasst am: 10. Jul 2021 15:20    Titel: Antworten mit Zitat

Danke dass du diesen Punkt noch klarstellst. Ich halte das zu Beginn eines vernünftigen Threads auch für angemessener als am Ende des anderen.

Was mir bei der Darstellung immer wieder fehlt ist die Grundhaltung, aus der heraus sowohl der Urheber einer derartigen Darstellung als auch die jeweilen Kritiker argumentieren. Soweit ich mich erinnere, war Schrödinger ähnlich wie Einstein an einer realistischen Interpretation der Quantenmechanik interessiert, während viele Anhänger der Kopenhagen Interpretation (oder wohl eher Sammlung verwandter Auslegungen) nicht dieses Ziel verfolgten. Wahrscheinlich entwickelte sich dies jedoch auch gerade im Zuge dieser Diskussion.

Schrödinger hat insofern einen Punkt gegen die Verbindung einer realistischen Interpretation der Wellenfunktion mit der Alltagserfahrung bzgl. bekannter Zustände von Katzen. Darüberhinaus zeigt er auch - danke für den Hinweis - dass auch eine Ensemble-Interpretation mit zugrundeliegenden jeweils scharfen Zuständen problematisch ist.

Ich denke jedoch - dazu müsste man die Argumente der Gegenseite konsultieren, dass die nicht-realistische bzw. instrumentalistische Rückzugsposition Schrödingers Argument ins Leere laufen lässt, da sie seine Grundannahme in Frage stellt.

So richtig verstanden?

Wäre es nicht sinnvoll, anstelle der Katze wieder die Nebelkammer zu betrachten? Dabei liegt eine konkrete und bis auf Näherungen vollständige Lösung vor.

_________________
Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.
index_razor



Anmeldungsdatum: 14.08.2014
Beiträge: 3259

Beitrag index_razor Verfasst am: 10. Jul 2021 21:05    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Danke dass du diesen Punkt noch klarstellst. Ich halte das zu Beginn eines vernünftigen Threads auch für angemessener als am Ende des anderen.


Ja, ich auch.

Zitat:

Schrödinger hat insofern einen Punkt gegen die Verbindung einer realistischen Interpretation der Wellenfunktion mit der Alltagserfahrung bzgl. bekannter Zustände von Katzen.


Zumindest hat er ein Argument gegen eine "naive Weise", ein Modell mit unscharfen Größen als Abbild der Realität zu betrachten. Das schließt noch nicht aus, daß es weniger naive Möglichkeiten gibt, die er nicht gründlich in Betracht zieht.

Wenn man makroskopische Größen geringer Unschärfe mit objektiven Eigenschaften identifiziert (was unproblematisch ist), dann stellt sich nur noch die Frage, ob es gelingt, zumindest in der Dynamik makroskopischer Systeme, einen problematischen Superpositionszustand analog zu einem Gibbsschen Ensemble zu interpretieren. Daß dies nicht für alle Systeme geht, ist unerheblich, wenn wir zunächst lediglich eine Lösung des Meßproblems suchen. Ich denke es ist zumindest plausibel, daß dies geht.

Zitat:

Darüberhinaus zeigt er auch - danke für den Hinweis - dass auch eine Ensemble-Interpretation mit zugrundeliegenden jeweils scharfen Zuständen problematisch ist.


Ja, Schrödinger faßt ja in erster Linie den Stand von 1935 zusammen. Zu dem Zeitpunkt war ja schon eine Weile bekannt, daß man quantenmechanische Ensembles nicht als klassische Ensembles streuungsfreier Zustände auffassen kann.

Zitat:

Ich denke jedoch - dazu müsste man die Argumente der Gegenseite konsultieren, dass die nicht-realistische bzw. instrumentalistische Rückzugsposition Schrödingers Argument ins Leere laufen lässt, da sie seine Grundannahme in Frage stellt.


Klar, Schrödinger beabsichtigt an dieser Stelle gar keine Kritik von nicht-realistischen Interpretationen. Es geht ihm um die Schwierigkeiten einer realistischen Interpretation. Daß diese scheinbar zwingend auf eine instrumentalistische Sicht führen, wird von ihm im folgenden diskutiert. Und ich glaube er sieht auch keinen anderen Ausweg.

Zitat:

Wäre es nicht sinnvoll, anstelle der Katze wieder die Nebelkammer zu betrachten? Dabei liegt eine konkrete und bis auf Näherungen vollständige Lösung vor.


Es ist auf jeden Fall sinnvoll, Systeme zu betrachten, für die ein konkretes Modell vorliegt, das man einigermaßen dynamisch behandeln kann und das trotzdem wesentliche Eigenschaften makroskopischer Systeme abbildet. Die Zeitentwicklung einer Katze zu beschreiben und quantenmechanisch zu definieren, ob sie lebt oder nicht, ist natürlich genauso unmöglich wie überflüssig. Umgekehrt sind Modelle, die so unspezifisch sind, daß man den Meßapparat nicht von einem weiteren mikroskopischen Teilchen unterscheiden kann (also praktisch alle Lehrbuchmodelle und auch alle naiven Diskussionen des Katzenparadoxons) wenig aufschlußreich.

Einige interessante Artikel gibt es dazu von Allahverdyan et al. Gerade lese ich https://arxiv.org/abs/1303.7257. Dann gibt es noch einen Reviewartikel https://arxiv.org/abs/1107.2138.
CarstenP



Anmeldungsdatum: 10.06.2023
Beiträge: 46

Beitrag CarstenP Verfasst am: 19. Jun 2023 14:00    Titel: Re: Zu Schrödingers Kritik an der Kopenhagener Interpretatio Antworten mit Zitat

index_razor hat Folgendes geschrieben:
Das Paradoxon besteht erstens darin, dass in dem Gedankenexperiment eine Katze in einen Zustand gebracht wird, in dem sie nach der Kopenhagener Deutung gleichzeitig „lebendig“ und „tot“ ist.


Fangen wir doch mal ganz von vorne an. Wer ist Schrödinger? Wer ist eine Katze? Wer ist lebendig und tot? Bevor ihr da Gleichungen aufstellt, beantwortet mal diese Fragen. Mit dem Ansatz, dass ihr Schrödinger gut findet, was bedeutet, dass Schrödinger existiert. Was existiert also?

Ich bleibe dabei, für alles, was mathematisch und daraus folgend physikalisch wichtig ist, ist der Beweis, dass nicht nichts exisiert, das Fundament für alles weitere.
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