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FAQ - Quantenmechanik und lokaler Realismus, Bell, ...
 
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TomS
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Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18062

Beitrag TomS Verfasst am: 04. Sep 2020 10:54    Titel: FAQ - Quantenmechanik und lokaler Realismus, Bell, ... Antworten mit Zitat

Ich möchte im Folgenden ein paar Aussagen zum Realitätsbegriff der Quantenmechanik zusammenfassen und insbs. erklären, was es bedeutet, dass die Welt wie wir sie in präzisen Experimenten beobachten nicht zugleich realistisch und lokal sein kann.

Eine physikalische Theorie ist realistisch, wenn Messungen nur Eigenschaften ablesen, die unabhängig von der Messung vorliegen, d.h. das Ergebnis einer Messung bereits feststeht, bevor es durch die Messung bekannt wird.
Eine physikalische Theorie ist nicht-lokal, wenn bei zwei Messungen an zwei Objekten, die sich gemäß der Relativitätstheorie nicht kausal beeinflussen können, die Messergebnisse an den beiden Objekten dennoch korreliert sind.
(nach Wikipedia)

Die Idee geht auf das berühmte Das EPR-Paradoxon (nach Einstein, Podolsky und Rosen) zurück.

Das Bellsche Theorem trifft dazu eine quantitative Aussage:
A) Unter der Annahme, dass Objekten lokale, jedoch nicht unmittelbar sichtbare Eigenschaften zukommen - sogenannte verborgene Variablen - wird die sogenannte Bellsche Ungleichung abgeleitet, die unter sehr allgemeinen Umständen für derartige lokal-realistische Theorien *) gültig sein muss.
B) Die Vorhersage auf Basis des quantenmechanischen Formalismus bzgl. der Korrelation der Ergebnisse zweier raumartigen getrennter Messungen an einem verschränkten Systemen verletzt dagegen die Bellsche Ungleichung.

*) u.a. die klassische Mechanik, aber das ist nicht wichtig, denn Bell argumentiert lediglich mit klassischen Wahrscheinlichkeiten, ohne eine konkrete Theorie anzunehmen

Bisherige Messungen bestätigen jeweils (B) und zeigen damit, dass die Natur, so wie wir sie in diesen Experimenten beobachten, nicht zugleich realistisch und lokal sein kann.

Vor Bell wurde lange angenommen, die Quantenmechanik sei zwingen nicht-realistisch (von-Neumann). De Broglie und Bohm zeigen jedoch durch explizite Konstruktion, dass die Quantenmechanik mathematisch so umformuliert werden kann, dass sie tatsächlich realistisch ist, d.h. dass Teilchen im wesentlichen klassischen Teilchen entsprechen, die jedoch nicht-lokal interagieren; der Formalismus verletzt die Kausalität.

Zum Abschluss eine kurze Gegenüberstellung des klassischen und des quantenmechanischen Formalismus, noch ohne die Bellsche Ungleichung.

Klassisch

Betrachten wir zwei klassische Objekte n=1,2, die miteinander wechselwirken; dies sei so beschaffen, dass die Objekte anschließend jeweils definierte Drehimumpulse haben, die sich zu Null addieren. Der klassische Zustand ist dann zu beschreiben mittels zweier Drehimpulsvektoren



mit



D.h. für beide Objekte liegen jeweils alle drei Drehimpulskomponenten fest, wobei die zweite Gleichung besagt, dass die Drehimpulskomponenten eines Teilchens durch die des anderen vollständig bestimmt sind.

Eine mathematisch äquivalente Aussage ist, dass eine Richtung im Raum als Rotationsachse beider Objekte festgelegt ist und dass der Drehimpuls bzgl. dieser Achse verschwindet. Der Zustand wird dann beschrieben durch diese Rotationsachse - entsprechend zwei Freiheitsgraden - sowie Drehimpulskomponenten m_1 bzw. m_2 bzgl. dieser Rotationsachse



mit



Die übliche lokal-realistische Aussage im Rahmen der klassischen Mechanik besagt, dass für zwei derartige Objekte die gemeinsame Drehachse festliegt und dass beiden Objekten jeweils einzeln eine bzgl. dieser Achse definierte Drehimpulskomponente zukommt (wobei sich beide Drehimpulskomponenten zu Null addieren).

Klassisch wären folgende Größen Bestandteil einer objektiven Realität: Rotationsachse, Drehimpulskomponenten bzgl. dieser Rotationsachse, d.h.



Quantenmechanisch

Zunächst sind beide Objekte ununterscheidbar, d.h. sie werden durch einen sogenannten verschränkten Zustand beschrieben **)



mit



**) ich setze hier Bosonen an, da Fermionen ggf. überhaupt keine klassische Entsprechung haben können

1) Damit ist es nicht mehr möglich, diesem Objekt diesen Drehimpuls und jenem Objekt jenen Drehimpuls zuzuschreiben. Die Individualität geht verloren.

2) Außerdem ist es nicht mehr möglich, den beiden Objekten eine eindeutige, wenn auch ggf. unbekannte Rotationsachse zuzuschreiben, denn es gilt mathematisch



Der Zustand ist unabhängig von unserer Wahl dieser Rotationsachse; diese ist willkürlich, und damit nicht Bestandteil einer objektiven Realität ***)

Im Gegensatz zur lokal-realistischen Aussage im Rahmen der klassischen Mechanik besagt der Formalismus der Quantenmechanik, dass der Gesamtdrehimpuls verschwindet - mehr nicht! D.h. er trifft keine isolierten Aussagen je „einzelnem Objekt“ und er ordnet diesen insbs. keine lokalen Individualitäten oder Eigenschaften wie einzelne Drehimpulse zu. Quantenmechanisch wären somit lediglich der Gesamtdrehimpuls Bestandteil einer objektiven Realität ***)



***) dies gilt nur für den Spezialfall, dass der Gesamtdrehimpuls verschwindet, ist aber im Kontext der üblichen Diskussionen zum Bellschen Theorem recht interessant

Ergänzt man die o.g. Beschreibung durch Ortszustände phi, so gilt



Damit wird klar, dass auch keine lokalen Individualitäten oder Orte vorliegen. Es ist schlicht sinnlos, danach zu fragen, welches der beiden Objekte wo lokalisiert ist und welchen Drehimpuls es trägt.

Im weiteren soll es zunächst um daraus resultierende experimentelle Beobachtungen gehen sowie um die Kritik nach EPR.

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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.


Zuletzt bearbeitet von TomS am 15. Sep 2020 22:03, insgesamt einmal bearbeitet
TomS
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Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18062

Beitrag TomS Verfasst am: 15. Sep 2020 22:00    Titel: Antworten mit Zitat

Vor der Diskussion des EPR-Experimentes ein kurzer Einschub zur Erklärung der Unabhängigkeit des Zustandes |L=0> von einer globalen Richtung.

Der Zustand



ist ein Drehimpuls-Singulet, d.h. insbs., dass er invariant unter Rotationen ist. Rotationen werden erzeugt durch den Gesamtdrehimpuls bzw. dessen Zerlegung in Einzeldrehimpulse gemäß



Mit



reduziert sich jedoch die Rotation R im Singulet-Sektor L=0 auf die Identität



Die Zustände erhält man durch Kopplung der Einzeldrehimpulse (hier: Spins) zweier Teilchen mit Drehimpuls l mittels Clebsch-Gordan-Koeffizienten



Speziell im Singulet-Sektor



gilt





1) Elektronen mit Drehimpuls bzw. Spin



Man erhält direkt



2) Photonen mit Drehimpuls bzw. Spin



Masselose Teilchen sowie deren Spin, Spinoperator sowie Rotationen können nicht mittels der Gruppe SO(3) im 3-dim. Raum beschrieben werden.
In diesem Fall liefert die Verwendung der Clebsch-Gordan-Koeffizienten der SO(3) einen zusätzlichen Term mit m=0; dieser entspräche einer longitudinalen Polarisation, die jedoch für Photonen nicht existiert.

Die korrekte Kopplung folgt stattdessen mittels der masselosen Darstellungen der Lorentzgruppe und deren Clebsch-Gordon-Koeffizienten; hier entfallen die m=0 Terme automatisch und es folgt



Zur Vereinfachung der Notation lasse ich wieder den Eintrag für l = 1 weg, d.h.


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TomS
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Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18062

Beitrag TomS Verfasst am: 20. Sep 2020 09:32    Titel: Antworten mit Zitat

Im Folgenden sollen Messungen sowie die daraus resultierenden Interpretationen betrachtet werden.

1) Zunächst werde Spin bzw. Polarisation eines Objektes bzgl. einer definierten Achse gemessen.
2) Dann werde „gemeinsam“ Spin bzw. Polarisation beider Objekte bzgl. derselben Achse gemessen.
3) Anschließend werden Messungen bzgl. einer rotierten, weiterhin gemeinsamen Achse betrachtet.

Die Wahrscheinlichkeit eines Messergebnisses folgt aus der Projektion des Gesamtzustandes auf den entsprechenden Unterraum gemäß der Bornschen Regel.

Der Projektor für ein Teilchen lautet



1) Der Projektor lautet



wobei der Kreis andeutet, dass das zweite Teilchen nicht gemessen wird bzw. dass für das zweite Teilchen der gesamte Zustandsraum erlaubt bleibt.

2) Die Projektoren lauten



3.1 und 3.2) Die Projektoren für eine Rotation der Achse bei der Messung lauten



Alternativ können natürlich auch die initialen Zustände rotiert werden, d.h.



1) Wir betrachten den Zustand



Die Wahrscheinlichkeit folgt aus



Der Projektor vernichtet jeweils einen der beiden Terme in der Superposition, d.h. wir erhalten für beliebigen Spin bzw. Polarisation



2) Wir betrachten denselben Zustand sowie die Wahrscheinlichkeiten





Im ersten Fall wird jeder Term durch einen der beiden Projektoren vernichtet



- im zweiten Fall nur jeweils einer.

Damit folgt für beliebigen Spin bzw. Polarisation



3.1 und 3.2)

Zu berechnen sind





Da ein Singulet vorliegt, gilt



d.h. die beiden Fälle (3.1) und (3.2) sind identisch zu (1) sowie (2).


Zusammenfassung

Wir erhalten für jedes m sowie beliebige Achsenausrichtung immer die Wahrscheinlichkeit ½.

Im Falle der Messung eines Spinwertes +m am ersten Objekt fordert die Quantenmechanik – genauer: das von Neumannsche Projektionspostulat – dass sich das System nun in einem Eigenzustand bzgl. dieses Messergebnisses befinden muss. D.h. die Messung reduziert den Zustand gemäß



Dies ist in Übereinstimmung mit dem Experiment, dass nämlich bei Vorliegen eines Messergebnisses +m am ersten Objekt eine Messung am zweiten Objekt sicher -m liefert.


Kritik nach Einstein, Podolsky und Rosen

Die Kritik richtet sich im Kern nicht gegen die oben diskutierten Ergebnisse; diese sind unstrittig und experimentell bestätigt. Die Kritik richtet sich gegen den nicht-lokalen bzw. den nicht-realistischen Charakter der Quantenmechanik, die in der vorliegenden Formulierung unvollständig ist.

1) Eine physikalische Theorie ist realistisch, wenn im Zuge von Messungen lediglich Eigenschaften eines Systems bekannt werden, die im System bereits von der Messung festliegen.
2) Eine physikalische Theorie ist lokal, wenn die Ergebnisse von Messungen an zwei Subsystemen, die sich nicht kausal beeinflussen können – d.h. zueinander raumartig sind – unkorreliert sind d.h. wenn tatsächlich keine Beeinflussung vorliegt.

Diese Begriffe stammen aus dem Gedankenexperiment zum sog. EPR-Paradoxon. Die Arbeit Bells für verschränkte Spinzustände stellt eine spätere Version des EPR-Paradoxons dar, die einer experimentellen, quantitativen Überprüfung zugänglich ist. Ursprünglich wurde das EPR-Paradoxon anhand eines anders angelegten Gedankenexperimentes formuliert.

https://journals.aps.org/pr/pdf/10.1103/PhysRev.47.777
Can Quantum-Mechanical Description of Physical Reality Be Considered Complete?
A. Einstein, B. Podolsky, and N. Rosen
Phys. Rev. 47, 777 – Published 15 May 1935
Abstract: In a complete theory there is an element corresponding to each element in reality. A sufficient condition for the reality of a physical quantity is the possibility of predicting it with certainty, without disturbing the system […] Then either (i) the description of reality given by the wave function in quantum mechanics is not complete or (ii) these two quantities cannot have simultaneous reality […] One is thus led to conclude that the description of reality as given by the wave function is not complete.

Vor der Messung und insbs. durch Präparation des Systems ist keine Auszeichnung irgendeiner Spinrichtung im System bzw. in keinem der beiden Teilsysteme angelegt; außerdem ist keine Auszeichnung einer Spinkomponenten +m oder -m bzgl. einer Achse angelegt (s.o.: alle Achsen und Spinkomponenten sind gleichberechtigt; Wahrscheinlichkeiten ½). Damit sind außer dem Gesamtdrehimpulses Null keine weiteren Elemente der Realität in der Beschreibung des Systems mittels des Zustandsvektors vorhanden.

Im Zuge einer lokalen Messung an einem der beiden Teilsysteme = Objekte mit einem definierten Ergebnis z.B. +m, dem Spin bezüglich einer bei dieser Messung festgelegten Achse, wird dies entsprechend auch für das jeweils andere Teilsystem festgelegt (s.o.: Reduktion des Zustandes; definierte Achse und Spinkomponente für beide Teilsysteme). Damit sind nun Achse und Spin bzgl. dieser Achse als Elemente der Realität in der Beschreibung des Systems mittels des Zustandsvektors vorhanden – auch für das zweite Teilsysteme ohne bzw. vor einer Messung an diesem.

Formal: die Reduktion des Zustandsvektors



im Zuge einer lokalen Messung an einem Teilchen erzwingt für das jeweils andere, nicht gemessene Teilsystem einen definierten Spinwert bzgl. einer definierten Achse.

Dies lässt nur zwei Schlüsse zu:

1) Entweder sind Achse und Spin als Elemente der Realität bereits vor der Messung im System selbst vorhanden. Dies ist jedoch für den o.g. quantenmechanischen Zustandsvektors nicht der Fall, d.h. die Quantenmechanik wäre bzgl. einer realistischen Beschreibung des Systems unvollständig.
2) Oder die Quantenmechanik ist in der o.g. Form bzgl. des Systems vollständig und tatsächlich nicht durch weitere Elemente der Realität zu ergänzen, dann verhält sich das System tatsächlich nicht-lokal.

Einstein et al. setzen in ihrer Argumentation die Lokalität gemäß der Relativitätstheorie voraus und gelangen damit zum Schluss bzgl. der Unvollständigkeit, d.h. der Notwendigkeit einer Erweiterung. Tatsächlich zeigen spätere Untersuchungen, dass stattdessen die Lokalität in gewisser Weise aufgegeben werden muss; zwar erlauben EPR-artige Experimente keine instantane Kommunikation, keinen messbaren Signalaustausch o.ä. zwischen nicht kausal verbundenen Raumzeit-Ereignissen, aber die o.g. Argumentation zeigt dennoch, dass die Reduktion des Zustandsvektors instantan erfolgen muss, d.h. das ein nicht-lokaler Aspekt vorliegt.

The principal distortion disseminated … is the implication, or even the explicit claim, that measuring the polarization, circular or plane, of one of the photons somehow affects the other photon. In fact, the measurement does not cause any physical effect to propagate from one photon to the other. … If on one branch of history, the plane polarization of one photon is measured and thereby specified with certainty, then on the same branch of history the circular polarization of the other photon is also specified with certainty. On a different branch of history, the circular polarization of one of the photons may be measured, in which case the circular polarization of both photons is specified with certainty … Yet no signal is propagated … Likewise no signal passes from one photon to the other in the experiment that confirms quantum mechanics. No action at a distance takes place.
(Murray Gell-Mann, Interpretation im Rahmen der Consistent Histories Interpretation)

Ausblick: Die spätere Arbeit von Bell beweist zunächst, dass die mathematische Struktur der Quantenmechanik unverträglich mit lokalen verborgenen Variablen ist, d.h. nicht zugleich (1) und (2) erfüllt sein kann. D.h. dass keine Erweiterung der Quantenmechanik möglich ist, in der
(a) weitere lokale Größen existieren, die die Messergebnisse determinieren, und dass zugleich
(b) alle quantitativen Vorhersagen der Quantenmechanik Gültigkeit behalten.
Die Quantenmechanik ist nicht-lokal.
Die experimentellen Überprüfungen von Bells Theorem insbs. durch Aspect et al. zeigen, dass sich die Natur entsprechend der quantenmechanischen Vorhersagen entsprechend dieses Theorems verhält, d.h. dass Theorien mit lokalen verborgenen Variablen falsifiziert sind. Die Natur verhält sich nicht-lokal.
Während also die formalen Analysen nach EPR Bestand haben, ist die Schlussfolgerung “While we have thus shown that the wave function does not provide a complete description of the physical reality, we left open the question of whether or not such a description exists. We believe, however, that such a theory is possible.” widerlegt.

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