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FAQ - fundamentale Regeln der Quantenmechanik
 
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TomS
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Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 17900

Beitrag TomS Verfasst am: 28. Okt 2017 15:50    Titel: FAQ - fundamentale Regeln der Quantenmechanik Antworten mit Zitat

Ich möchte im Folgenden kurz die grundlegenden und allgemein akzeptierten mathematischen Regeln zur Quantenmechanik zusammenfassen ¹. Diese dienen zunächst als Basis zur Beantwortung von Fragen im Forum. Die Formulierung der Regeln ist mathematisch einfach gehalten, es existieren Verallgemeinerungen bzw. Präzisierungen ².

Kursiv gesetzter Text bezieht sich auf reale Systeme und deren Dynamik, Präparation und Messung, sowie tatsächlich messbare Größen d.h. Observablen sowie deren Messwerte.

Normal gesetzter Text bezieht sich auf rein mathematische Objekte, die die o.g. physikalischen Systeme etc. in gewissem Sinne repräsentieren ³.


1. Die Beschreibung eines Quantensystems erfolgt im Rahmen eines separablen Hilbertraumes

2. Der Zustand eines einzelnen ⁴ Quantensystems wird durch einen normierten Vektor ⁵ als Element dieses Hilbertraumes beschrieben.

3. Die Zeitentwicklung eines einzelnen isolierten ⁶ Quantensystems wird durch einen unitären Zeitentwicklungsoperator



mittels



beschrieben; ist dabei der Hamiltonoperator.

Diese Regel ist vollständig äquivalent zur Schrödingergleichung ⁷



4. Eine beobachtbare Größe, d.h. eine Observable eines Quantensystems wird durch eine selbstadjungierten ⁸ Operator repräsentiert, der auf die Zustandsvektoren in wirkt.

-------------------- ⁹

5. Die möglichen Messwerte einer Observable entsprechen dem Spektrum des korrespondierenden selbstadjungierten Operators . Im Falle eines reinen Punktspektrums sind dies gerade die Eigenwerte

6. Sei die Menge aller verallgemeinerten ¹⁰ Eigenvektoren des selbstadjungierten Operators mit Spektralwerten . Sei das Quantensystem in einem Zustand präpariert, der mittels des Zustandsvektors repräsentiert wird. Wird eine Messung einer Observablen – repräsentiert durch den Operator – durchgeführt, so ist die Wahrscheinlichkeit, den Messwert zu erhalten gegeben durch



Dies ist die sogenannte Bornsche Regel.

-------------------- ¹¹

7. Im Falle aufeinanderfolgender Messungen am selben Quantensystemen – mehrerer Stern-Gerlach-artiger Spin-Messungen an einem Elektron – kann eine Messung mit Messwert aufgefasst werden als Präparation des Systems in einen neuen initialen Zustand repräsentiert durch den Zustandsvektor , der in der Folge für die weitere Zeitentwicklung sowie weitere Messungen verwendet wird. Dies ist das sogenannte von-Neumannsche Projektionspostulat.

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¹ Diese Regeln sind Gegenstand einiger verbreiteter Lehrbücher, z.B. Dirac, Cohen-Tannoudji, Sakurai, Weinberg, Griffiths, …

² U.a. für entartete Unterräume, verallgemeinerte Messungen die nicht mittels Projektoren sondern positiver operatorwertiger Wahrscheinlichkeitsmaße (POVM) beschrieben werden, Darstellungen von Zuständen als Strahlen (Rays) bzw. in projektiven Hilberträumen, verallgemeinerte Zustände und Dichteoperatoren, kontinuierliche bzw. distributionswertige Basen, Gelfand Triples bzw. rigged Hilbert spaces. Für eine Einführung sind diese Details oft irrelevant – mit einer Ausnahme, nämlich den kontinuierlichen bzw. distributionswertige Basen für Orts- und Impulsraumdarstellung

³ Die Bedeutung des Formalismus und der Repräsentation (ontisch, rein instrumentalistisch etc.) sowie die einzelnen Interpretationen der Quantenmechanik sind hier nicht Gegenstand. Allerdings dienen die Regeln als gemeinsamer Startpunkt für die wesentlichen Interpretationen, wobei diese je nach Interpretation teilweise angepasst werden. In einigen Interpretationen kommt einzelnen Regeln nicht der Status eines fundamentalen Axioms, sondern lediglich der eines abgeleiteten Theorems oder einer effektiv bzw. für praktische Anwendungen gültigen Regel zu.

⁴ In statistischen bzw. Ensemble-Interpretationen wird dies dahingehend modifiziert, dass der Zustandsvektor nicht mehr ein einzelnes System repräsentiert, sondern lediglich ein Ensemble gleichartig präparierter Systeme.

⁵ Präziser ist die Formulierung der Repräsentation mittels einer Äquivalenzklasse mit und dem o.g. normierten Vektor in .
Dies ist automatisch gegeben bei Verwendung projektorwertiger Zustände , insbs. bei der Betrachtung verallgemeinerter Zustände bzw. Dichteoperatoren.

⁶ Für nicht-isolierte Systeme ist der im Folgenden eingeführte Hamiltonoperator zeitabhängig; der Zeitentwicklungsoperator hat dadurch eine allgemeinere Form.

⁷ Diese Regel gilt im sogenannten Schrödinger-Bild. Es existieren andere, unitär-äquivalente Formulierungen, insbs. das Heisenberg- und das Wechselwirkungsbild, in denen die Zeitentwicklung vollständig oder teilweise von den Zustandsvektoren auf die Operatoren übertragen wird.

⁸ Ich bevorzuge die mathematische Bezeichnung ‚selbstadjungiert‘ und die klare Abgrenzung zu ‚symmetrisch‘; im endlich-dimensionalen Fall sind beide Bedeutungen identisch.

⁹ In der Everettschen Interpretation stellen die folgenden Regeln keine fundamentalen Axiome dar. Man kann stattdessen argumentieren, dass es möglich ist, sie aus dem Formalismus abzuleiten bzw. zumindest zu motivieren, und dass sie für praktische Anwendungsfälle weiterhin gültig sind.

¹⁰ Im Falle eines teilweise kontinuierlichen Spektrums spricht man von verallgemeinerten Eigenvektoren, da zwar gilt, dass nicht existiert, dass jedoch der mittels formal definierte Eigenvektor nicht Element von ist. Einfachstens Beispiel sind die verallgemeinerten Eigenzustände des Impulsoperators, die als ebene Wellen nicht quadratintegrabel sind.

¹¹ Diese Regel wird häufig unnötig allgemein und damit letztlich falsch dargestellt: “Nach einer Messungen einer Observablen mit Messwert befindet sich das System in einem Eigenzustand “.
Dies ist zunächst unnötig, da der Zustand des Systems nur dann interessiert, wenn dieser im Zuge nachfolgender Messungen noch eine Rolle spielt; ist dies nicht der Fall, kann auf die Forderung der Projektion verzichtet werden. Darüber hinaus ist diese Regel letztlich falsch, wenn sie unvorsichtig angewandt wird: nach der Messung der Energie eines Photons befindet sich das System sicher nicht in einem Energieeigenzustand des Photons, da das Photon absorbiert wurde und nicht mehr existiert! Andererseits wurde überhaupt kein erweiterter Systembegriff eingeführt, bzgl. dessen überhaupt von einem Eigenzustand gesprochen werden könnte.
Das Projektionspostulat, allgemein bekannt als “Kollaps der Wellenfunktion“, war bereits in der Kopenhagener Interpretation nicht allgemein akzeptiert; es wird nur für wenige Arten der Messung tatsächlich benötigt. Insbs. steht es im Widerspruch zur unitären Zeitentwicklung, da die Projektion im Gegensatz zu nicht invertierbar ist.
In der neueren Quantenmechanik wurden diverse nicht-Kollaps-Interpretationen entwickelt, die ohne das Projektionspostulat auskommen bzw. in denen es nicht den Status eines fundamentalen Axioms hat, jedoch für einige praktische Anwendungsfälle weiterhin gültig bleibt.

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In der sogenannten 'orthodoxen', 'Standard-' oder auch 'Kopenhagen-Interpretation‘ handelt es sich dabei um instrumentalistische Regeln zur Berechnung der Ergebnisse von Experimenten, d.h. möglichen Messerwerten und deren Wahrscheinlichkeiten. Der Zustandsvektor ist dabei ein rein mathematisches Werkzeug. Die Interpretation ist agnostisch bzgl. der Frage, ob der Zustandsvektor ein tatsächlich existierendes Objekt in einer unabhängig von Beobachtungen existierenden Realität repräsentiert.

Im Gegensatz zur klassischen Physik ist es nicht ausreichend, die dynamischen Gesetze der Theorie zu formulieren; man muss außerdem auf den Begriff der Messung verweisen, die jedoch im Rahmen der Regeln undefiniert bleibt. Rein pragmatisch hat eine Messung dann stattgefunden, wenn ein Messgerät einen Messwert anzeigt; die Messung steht somit in gewisser Weise außerhalb des Anwendungsbereiches der o.g. Regeln; sie wird nicht mittels dieser Regeln selbst beschrieben.

Obwohl diese Situation prinzipiell unbefriedigend erscheint, sind die o.g. Regeln für alle bekannten Anwendungsfälle der Quantenmechanik bis hin zu relativistischen Quantenfeldtheorien ausreichend.

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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.
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