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Falsifikationsprinzip - Seite 6
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A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 15. Mai 2024 19:09    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Das Vakuum ist völlig leer - deshalb heisst es ja so. Auch in der Quantenfeldtheorie.

TomS hat Folgendes geschrieben:
Was sind dann Quark- und Gluon-Kondensat? Der Higgs-Erwartungswert?

Keine Observablen, sondern mathematischer Input (mit dem unphysikalischen nackten Vakuumszustand) für die Renormierung. Das physikalische Vakuum ist erst das, was nach der Renormierung übrigbleibt. Dort gibt es all diese Dinge nicht mehr.

Ich gehe davon aus, dass wir aneinander vorbeireden oder dass wir unterschiedliche Definitionen von "physikalische Vakuum" haben.

Was ist denn Ihre Definition?
TomS hat Folgendes geschrieben:

Was meinen Sie mit "völlig leer"? Wie ist das definiert?

Das Vakuum ist der Grundzustand einer QFT, die die Wightman Axiome erfüllt.
Der Erwartungswert aller Wightmann-Felder A(x) im Vakuum ist unabhängig vom Raumzeitpunkt, und diese Konstante hängt nur vom Feld A und den die Feldtheorie definierenden Konstanten ab. Daher sind alle (thermodynamisch definierten) makroskopischen Beobachtungsgrössen unabhängig von Ort und Zeit. Das heisst, ein (fiktiver) makroskopischer Beobachter erlebt überall und jederzeit nichts. Er kann nicht einmal ein Koordinatensystem festlegen.

Wie soll er dann eine Fussballmannschaft erleben können???
TomS hat Folgendes geschrieben:

Das Quark-Kondensat ist eine eichinvariante Observable, die nach der Renormierung einen von Null verschiedenen Wert hat. Sie entspricht dem Ordnungsparameter für die chirale Symmetriebrechung.

Das sagt noch lange nicht, dass es ein physikalisches Objekt im Vakuum ist.
Es ist sicher keine Observable im Sinn der Quantenmechanik (auf den die Bornsche Regel anwendbar wäre).
TomS hat Folgendes geschrieben:

Shifman-Vainshtein-Zakharov sum rules
Mikhail Shifman (2013)

Inwiefern "gibt es all diese Dinge nicht mehr"?

Das lese ich mir genauer durch und antworte dann.

TomS hat Folgendes geschrieben:

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Instantonen?

Das sind mathematische Objekte nicht in der physikalischen Minkowkski Raumzeit sondern in dem auf imaginäre Zeit analytisch fortgesetzten rein mathematischen Euklidischen Raumzeit. Es sind Werkzeuge, um daraus physikalische Tunnelwahrscheinlichkeiten zu berechnen.

Alle mathematischen Werkzeuge sind Werkzeuge; ich verstehe den Einwand nicht.

Es sind mathematische Werkzeuge, keine physikalische Beobachuingsgrössen. Sonst wäre die Exponentialfunktion auch ein physikalisches Objekt, da sie ja als Werkzeug in der Physik benutzt wird.
TomS hat Folgendes geschrieben:


A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Ausserdem existieren Instantonen nicht im Vakuum, sondern verbinden mehrere solche, und auch dies nur vor der Renormierung. Im physikalischen Vakuum gibt es auch diese nicht mehr!

Da würde mich eine Quelle interessieren.

Werde ich heraussuchen.
TomS hat Folgendes geschrieben:

hep-ph/9610451
Instantons in QCD
T. Schaefer, E. Shuryak
Zitat:
... This brief outline indicates that instantons provide at least a qualitative understanding of many features of the
QCD ground state ...
we would like to test the underlying assumption that the topological
susceptibility, the gluon condensate, chiral symmetry breaking etc. are dominated by instantons
.


Das sagt nur, dass Sie eine Verstehenshilfe sind, nicht dass sie physikalische Objekte im Vakuum sind.

TomS hat Folgendes geschrieben:

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Ich scheue mich, dabei von "völlig leer" zu sprechen.

Wenn etwas drin ist, muss es (wie alles, was physikalisch existiert) prinzipiell messbar sein. Die von Ihnen genannten Entitäten sind es nicht.

Warum nicht?

Das Quark-Kondensat ist mathematisch betrachtet eine eichinvariante Observable, der Zusammenhang mit den pionischen realen Messgrößen ist klar, also ist es zumindest indirekt messbar.

Das Plancksche Wirkungsquantum ist auch messbar. ist es deshalb im Universum enthalten?
Höchstens in einem sehr figurativen Sinn....

TomS hat Folgendes geschrieben:

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Aber ich sehe schon guten Gründe, von einem nicht-trivialen, also "nicht völlig leerem" Vakuum zu sprechen.

Wie gut sie wirklich sind, das ist ja gerade die Frage!

Siehe oben.

Vielleicht stört Sie das "nicht völlig leer"; dann schreibe ich gerne"nicht-perturbativ" im Sinne von "kein Fock-Vakuum bzgl. der freien Zustände".

Das ergibt einen total anderen Sinn. Das physikalische Vakuum in einer wehchselwirkenden QFT ist selbstverständlich nichtperturbativ. Aber das bedeutet inhaltlich nichts. Das Newtonsche Vakuum ist auch nichtperturbativ, aber trotzdem leer.
TomS hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:

Ihre Fluktuationen bringen ja Gehirne und Fussballclubs hervor, die offensichtlich aus Teilchen bestehen! Wo kommen diese Teilchen denn her?

...

Dennoch zaubern Sie aus diesen rein mathematischen Termen ohne Begründung Gehirne und Fussballclubs! Wie kann das zugehen?

Wenn ich Ihnen ein Matrixelement



gebe, dann werden sie entsprechend der Regeln der Quantenmechanik sagen, dass unter der Voraussetzung der Präparation die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegens von größer Null ist.

Nein. Ein einzelnes Matrixelement besagt physikalisch gar nichts. Die einzigen Matrixelemente, die in der QFT Wahrscheinlichkeiten bedeuten, sind die der S-Matrix. In Weinbergs QFT Buch Band 1 kommen Wahrscheinlichkeiten nur in diesem Zusammenhang vor. Das sind auch die einzigen Wahrscheinlichkeiten der QFT, die experimentell verifiziert sind.
TomS hat Folgendes geschrieben:

Ich nehme das explizit nicht wörtlich; ich interpretiere das nicht "realistisch" im Sinne einer "tatsächlichen Existenz";

Ach so. Dann haben die Gehirne und Fussballmannschaften, die Sie hergezaubert haben, also keine tatsächliche Existenz, sondern sind alles nur Hirngespinste!

Über virtuelle Existen lässt sich natürlich beliebiges behaupten und nichts davon nachprüfen,,,,,
TomS hat Folgendes geschrieben:

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Dennoch liefern unsere Theorien mathematische Entitäten, die "fluktuieren" (inwieweit man diese als "real" ansehen möchte, will ich hier gar nicht diskutieren). Und im Mittel erhalten wir daraus zeitunabhängige Messergebnisse.

Die Fluktuationen sind schon Ensemblemittel, komplexwertige Funktionen von zwei Raumzeitpunkten.

Eine n-Punkt-Korrelationsfunktion ist für mich kein Ensemble-Mittel sondern einfach nur eine n-Punkt-Korrelationsfunktion.

OK. Dann sind Vakuumfluktuationen auch nur n-Punkt-Korrelationsfunktionen, nichts mehr. Hilfmittel, um wirklich existierende Dinge, wie makroskopische Felder, Antwortfunktionen und Streuquerschnitte vorherzusagen!
TomS hat Folgendes geschrieben:


A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Wo kommen plötzlich die Messergebnisse her? Wer misst das, was und wie?

Experimentell?

Nein, sondern im Argument. Von den N-Punktfunktionen muss man ja irgendwie auf die Vorhersagen kommen, die physikalische Bedeutung haben. Dass man mit N-Punktfunktionen Rechnungen machen kann, die Vorhersagen liefern, gibt ihnen genausoviel oder wenig physikalische Bedeutung wie dem Konzept der Division. Die Bedeutung kommt erst durch die Art und Weise, wie die Werkzeuge in die Argumente eingehen. Es kommt also auf die Details an.

TomS hat Folgendes geschrieben:

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Was eine makroskopische Fluktuation sein soll, weiss ich nicht. Die Vakuumfluktuationen, die in den Formeln auftauchen, sind von der Form
, wo A und B Feldoperatoren sind. Welche Operatoren ergeben eine makroskopische Fluktuation??

TomS hat Folgendes geschrieben:
Kompliziertere Produkte von Feldoperatoren, vergleichbar der Konstruktion von kohärenten Zuständen o.ä.

Solange Sie das nicht näher beschreiben können, wenigstens für einen Fall, ist dass bloss unphysikalisches Blabla. Kohärente Zustände sind Zustände, nicht Operatoren!

Kohärente Zustände werden mittels Operatoren erzeugt:



Ja, aber viele Operatoren erzeugen dieselben Zustände.

+++++
Ich entnehme aus Ihren Ausführungen, dass Sie meinen, weil es Vielteilchenzustände gibt, deren inneres Produkt mit dem Vakuumzustand nicht veschwindet, kann das Vakuum nicht leer sein. Das schein der Kern Ihrer Argumente zu sein. ist es so, oder gibt es da noch mehr zu verstehen?
+++++

TomS hat Folgendes geschrieben:

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Allerdings liefern uns letztlich alle etablierten Theorien derartig absurd erscheinenden Artefakte.

Ich kann nichts davon sehen. Alle etablierten Theorien liefern klare Rezepte für beobachtbare makroskopische Felder, lineare und nichtlineare Antwortfunktionen, und Wahrscheinlichkeiten für mikroskopische Prozesse, die alle experimentell gut bestätigt sind.

Nirgends irgendeine Absurdität. Letztere gibt es nur in der wissenschaftlich nicht ernst zu nehmenden Pop-Science-Literatur. Sie kommen dadurch zustande, dass man in der Argumentation irgendwo Absurditäten einfliessen lässt, die physikalisch nicht begründet werden können.

Nö, es geht gerade nicht um Pop-Science. Diese kann in den meisten Fällen auch nur das aufwärmen, was in den Theorien schon drinsteckt.

Es geht um Effekte auf Basis etablierter Theorien, die teilweise extrem stark unterdrückt (z.B. spontane makroskopische Fluktuation mit Entropieverringerung) bzw. unsichtbar sind (die inkohärente Überlagerung der lebenden und der toten Katze). Weder würde ich diese zu realen Phänomen hochstilisieren, noch würde ich ignorieren, dass derartiges berechenbar ist.

Das bedeutet nicht, dass das irgendetwas mit beobachtbarer Physik zu tun hat. Man kann auch den Kosinus von 100 berechnen.

Und berechnet haben Sie (oder jemand anders) gar nichts úber makroskopische Fluktuationen. Nur behauptet, dass es geht. Nicht einmal eine klare Definition angegeben, auf Grund derer man eine Berechnung anfangen könnte.
TomS hat Folgendes geschrieben:

Poincar%C3%A9_recurrence_theorem

Das Poincare Recuurence Theorem gilt nur in kompakten Räumen. Der Minkowskiraum, in dem alle bekannte QFT stattfindet, ist aber nicht kompakt.
[quote="TomS"]


abs/1108.0417
Out of equilibrium: understanding cosmological evolution to lower-entropy states
Anthony Aguirre, Sean M. Carroll, Matthew C. Johnson
Zitat:
Despite the importance of the Second Law of Thermodynamics, it is not absolute. Statistical mechanics implies that, given sufficient time,

mit einem astronomisch grossen Faktor mal der bisherige Dauer des Universums, schon für ein kleines makroskopisches System wie einem Stück Zucker. Fúr ein unendlich ausgedehntes System bricht die Argumentation sogar vollkommen zusammen.

Und trotzdem extrapolieren Sie grosszügig, obwohl die QFT nur auf kleinen Zeitskalen experimentell geprüft ist.....

Solche Extrapolationen sind nichts als Spekulation (und vielleicht Hoffnung).
Wie war das noch mit Ihrem Argument úber die Falsifizierbarkeit?

TomS hat Folgendes geschrieben:

hep-th/0611043
Sinks in the Landscape, Boltzmann Brains, and the Cosmological Constant Problem
Andrei Linde
Zitat:
This paper extends the recent investigation of the string theory landscape

von der bisher rein gar nichts experimentell verifiziert worden ist....

Wie Sie sehen, halte ich von den meisten Ihrer Argumente leider nichts. Ihre Antwort auf meine oben mit +++++ markierte Frage ist wohl am ehesten geeignet, konstruktiv weiterzuführen.
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18303

Beitrag TomS Verfasst am: 15. Mai 2024 20:31    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Ihre Antwort auf meine oben mit +++++ markierte Frage – … Sie meinen, weil es Vielteilchenzustände gibt, deren inneres Produkt mit dem Vakuumzustand nicht veschwindet, kann das Vakuum nicht leer sein. Ist es so, oder gibt es da noch mehr zu verstehen? – ist wohl am ehesten geeignet, konstruktiv weiterzuführen.

Ja, das ist der Kern meiner Argumentation, wobei wir Begriffe wie "leer" oder "nicht leer" vermeiden sollten. Argumentieren wir doch ganz einfach mittels quantenmechanischer Wahrscheinlichkeiten.


Ihr Argument, dass gewisse Größen in der QFT keine Observablen darstellen, halte ich für nicht stichhaltig, insbs. nicht die Begründung mittels Wightman-Axiomen und S-Matrix. Wir wissen, dass (bis auf künstliche Ausnahmen) keine mathematisch konsistenten, wechselwirkenden Quantenfeldtheorien vorliegen, daher würde ich einem axiomatischen Zugang aktuell nicht trauen. Umgekehrt wissen wir aber, dass die Gitter-QCD eine quantenmechanische Theorie darstellt, mittels derer wir Erwartungswerte wie Kondensate, Massen, Formfaktoren u.ä. zutreffend berechnen können, explizit ohne dass wir dafür Wightman-Axiomen und S-Matrix heranziehen. Insofern halte ich diverse Matrixelemente einfach für ganz normale Erwartungswerte quantenmechanischer Observablen.

Ihr Argumentiert, das Poincare Recurence Theorem träfe nur in kompakten Räumen zu, ist korrekt. Aber auch in einem hypothetischen endlichen Universum ist seine Konsequenz gelinde gesagt fremdartig; man wird diese Fremdartigkeit nicht so einfach los.

Das Argument "Und trotzdem extrapolieren Sie grosszügig, obwohl die QFT nur auf kleinen Zeitskalen experimentell geprüft ist …" geht doch an der Sache vorbei. Nochmal: ich behaupte nicht, dass all diese Artefakte existieren, ich behaupte lediglich, dass sie aus sinnvollen Überlegungen im Rahmen etablierter Theorien folgen.

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Wie Sie sehen, halte ich von den meisten Ihrer Argumente leider nichts.

Weil sie mich missverstehen.

Ich denke, das Problem ist, dass Sie meinen, mir ausreden zu müssen, dass alle diese Argumente zutreffend wären oder gar auf real existierende Entitäten führen. Das habe ich so nie gesagt – im Gegenteil.

Sie nehmen einen pragmatischen Standpunkt ein und versuchen zu zeigen, dass für bestimmte Größen (z.B. Matrixelemente) eine realistische Deutung sinnlos, unzulässig oder zumindest nicht zwingend ist. Kann man machen.

Ich wurde hier gefragt, was es denn mit dem einen oder anderen absurd erscheinenden Effekt auf sich hat. Meine Antwort war, dass es sich dabei um (mehr oder weniger gut abgesicherte) mathematische Konsequenzen der Theorie handelt, dass sie aufgrund der Größenordnungen praktisch nicht falsifizierbar sind, und dass man in die Theorie an dieser Stelle – so wie an allen möglichen anderen Stellen – einen Realitätsbezug hineinlesen kann. Wenn der Formalismus X und Y vorhersagt, warum soll ich X glauben und Y nicht, nur weil mir Y absurd erscheint, und ohne dass ich Y experimentell widerlegen könnte?

_________________
Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.


Zuletzt bearbeitet von TomS am 15. Mai 2024 22:36, insgesamt einmal bearbeitet
gbhffghfgh
Gast





Beitrag gbhffghfgh Verfasst am: 15. Mai 2024 21:39    Titel: Antworten mit Zitat

*popcorn*
Aruna



Anmeldungsdatum: 28.07.2021
Beiträge: 881

Beitrag Aruna Verfasst am: 16. Mai 2024 07:39    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Wenn der Formalismus X und Y vorhersagt, warum soll ich X glauben und Y nicht, nur weil mir Y absurd erscheint, und ohne dass ich Y experimentell widerlegen könnte?


Warum soll man - im naturwissenschaftlichen Kontext - überhaupt etwas glauben, also ohne hinreichenden Beleg für wahr halten?
Wäre hier - wo man nicht weiß - (kritisch) rational nicht eine agnostische Haltung passender?
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18303

Beitrag TomS Verfasst am: 16. Mai 2024 08:25    Titel: Antworten mit Zitat

Aruna hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Wenn der Formalismus X und Y vorhersagt, warum soll ich X glauben und Y nicht, nur weil mir Y absurd erscheint, und ohne dass ich Y experimentell widerlegen könnte?

Warum soll man - im naturwissenschaftlichen Kontext - überhaupt etwas glauben, also ohne hinreichenden Beleg für wahr halten?

Weil es sich um die Vorhersage einer perfekt funktionierenden Theorie im Rahmen des bisher bestätigten Gültigkeitsbereiches handelt.

Damit ist es nicht wahr, aber die Hypothese, dass es wahr ist, ist rational. Seriös ist es dann, diese Hypothese kritisch zu hinterfragen: theoretisch tut man das und findet keine Gegenargumente; praktisch kann man es nicht, weil – wie gesagt – Y nicht experimentell zugänglichen ist.

Aruna hat Folgendes geschrieben:
Wäre hier - wo man nicht weiß - (kritisch) rational nicht eine agnostische Haltung passender?

Die nimmt man doch ein.

Da Y eine mathematische Konsequenz einer empirisch nicht widerlegt jedoch in vielerlei Hinsicht bestätigten Theorie ist, halte ich die Hypothese Y für zutreffend, weiß jedoch, dass ich deren Wahrheitsgehalt nie prüfen kann. Was ist daran verkehrt?

Argumente auf Basis des an Alltagserfahrungen geschulten "gesunden Menschenverstandes" gemäß derer Y "absurd erscheint" halte ich dagegen für nicht rational. Oder würdest du "aufgrund des gesunden Menschenverstandes halte ich die Hypothese Y für falsch" der Hypothese "aufgrund einer präzisen Berechnung im Rahmen der Quantenmechanik halte ich die Hypothese Y für wahr" vorziehen?
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18303

Beitrag TomS Verfasst am: 16. Mai 2024 10:08    Titel: Antworten mit Zitat

Noch ein Beispiel:

Betrachten wir Energiefluktuationen in einem einatomigen idealen Gas aus N Teilchen bei Temperatur T (T ist im kanonischen Ensemble fest).

Die Zustandsdichte lautet



Siehe https://bingweb.binghamton.edu/~suzuki/ThermoStatFIles/3.7%20MC,%20CE%20Density%20of%20states%20and%20Partition%20function.pdf

Für die Zustandssumme gilt



Der Peak der Energie folgt mittels



Wir betrachten die Wahrscheinlichkeit P(E, dE), das System in einem Energieintervall [E, E+dE] zu finden; für genügend kleines dE kann man dies mittels des Integranden annähern (die Berechnung der Integrale ist lästig und ändert nichts an den auftretenden Größenordnungen), d.h.



Sei nun



Damit folgt



wobei die letzte Umformung der Taylornäherung in xi bis zur zweiten Ordnung entspricht.

Die Wahrscheinlichkeit für Schwankungen ist also unabhängig vom Vorzeichen der Schwankung.

Nun überlegen wir uns die Größenordnung der Abweichung der Energie, ausgehend von einer entsprechenden Temperaturschwankung; dabei betrachten wir für ca. ein Mol bei einer Temperatur von 200 bis 300 K.





Das liefert für den Exponenten





Bereits eine derart winzige Energieschwankung ist also extrem unterdrückt.

Dieselbe Überlegung für eine Energieschwankung entsprechend





für 10000 Mol, z.B. einer großen Konzerthalle, führt auf



Die statistische Physik sagt also voraus, dass derartige Energieschwankungen mit nicht-verschwindender Wahrscheinlichkeit geschehen können, und bei beliebig langer bzw. häufiger Beobachtung auch beliebig oft eintreten werden.

Die Hypothese lautet, dass die Wahrscheinlichkeiten derartiger Energieschwankungen durch die o.g. Formeln gegeben ist.

Ein Experiment zur Bestätigung müsste unter sehr präzisen Bedungen (Kopplung der Hallenluft ein an riesiges Reservoir, dieses bei konstanter Temperatur) sehr lange laufen (jemand anders darf gerne abschätzen, innerhalb wievieler Alter des Universums man mindestens ein derartiges Ereignis erwarten darf - natürlich außerdem noch viele viele kleinere Schwankungen), man müsste die Ereignisse zählen etc. (die Überlegung enthält noch keine Dynamik, sie sagt also nichts über die zeitliche Dauer der Schwankungen etc. *).

Ein Experiment zur Falsifizierung müsste länger laufen, so dass man z.B. für zehn erwartete jedoch null beobachtete Ereignisse die Hypothese mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von soundsoviel Prozent zurückweisen darf.

Beides ist sicher illusorisch.

Trotzdem halte ich die Hypothese, dass dies die zutreffende Wahrscheinlichkeit für derartige Ereignisse ist (natürlich noch zu verbessern im Sinne von * oben), für wahr; und ich halte meine Begründung für rational. Ein rationales Gegenargument, warum diese Hypothese falsch sein sollte, sehe ich nicht, lasse mich aber gerne eines Besseren belehren.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 17. Mai 2024 21:42    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Ihre Antwort auf meine oben mit +++++ markierte Frage – … Sie meinen, weil es Vielteilchenzustände gibt, deren inneres Produkt mit dem Vakuumzustand nicht veschwindet, kann das Vakuum nicht leer sein. Ist es so, oder gibt es da noch mehr zu verstehen? – ist wohl am ehesten geeignet, konstruktiv weiterzuführen.

Ja, das ist der Kern meiner Argumentation, wobei wir Begriffe wie "leer" oder "nicht leer" vermeiden sollten. Argumentieren wir doch ganz einfach mittels quantenmechanischer Wahrscheinlichkeiten.

Gut. Welche Wahrscheinlichkeit und für was bekommt man aus der kenntnis eines einzigen Matrixelements in Ihrer Argumentation? Da gingen Sie bisher sehr grosszügig über die Details weg und produzierten auf diese Weise plausiblen Unsinn.

TomS hat Folgendes geschrieben:

Insofern halte ich diverse Matrixelemente einfach für ganz normale Erwartungswerte quantenmechanischer Observablen.

Aber Erwartungswerte quantenmechanischer Observablen haben die spezielle Form mit einem Zustand und einer selbstadjungierten Observablen A. Insbesondere sind sie (im Unterschied zu beliebigen Matrixelementen) immer reell. Und dann bedeutet das Ergebnis nur etwas, wenn man dasselbe A beliebig oft messen kann, so dass man reproduzierbare Erwartungswerte bekommt. D.h. A muss etwas lokal Messbares bedeuten, sonst macht der Erwartungswert keinen Sinn.

TomS hat Folgendes geschrieben:

Ihr Argumentiert, das Poincare Recurence Theorem träfe nur in kompakten Räumen zu, ist korrekt. Aber auch in einem hypothetischen endlichen Universum ist seine Konsequenz gelinde gesagt fremdartig; man wird diese Fremdartigkeit nicht so einfach los.

Die Wahrscheinlichkeiten bei einem Stúck Zucker (wo der Zustandsraum kompakt ist) ist schon so winzig, dass selbst wenn jedes Atom im Universum jede Sekunde seit seiner Existenz eine Messung gemacht hätte, die Wahrscheinlichkeit, eine makroskopische Fluktuation gemessen zu haben, immer noch verschwindend gering ist. Das ist weit, weit ausserhalb des Bereichs, wo man Wahrscheinlichkeiten zuverlässig getestet hat. Solche Extrapolationen sind physikalisch gesehen pure Spekulation. Ein Nullresultat ist da mit (dem Standard für hochgenaue statistische Vorhersagen) kompatibel.

TomS hat Folgendes geschrieben:

Das Argument "Und trotzdem extrapolieren Sie grosszügig, obwohl die QFT nur auf kleinen Zeitskalen experimentell geprüft ist …" geht doch an der Sache vorbei. Nochmal: ich behaupte nicht, dass all diese Artefakte existieren, ich behaupte lediglich, dass sie aus sinnvollen Überlegungen im Rahmen etablierter Theorien folgen.

Ich dachte, eine Fussballmannschaft sei so real wie jedes makroskopisch Objekt. Aber anscheinend behaupten Sie nur, dass diese Fussballmannschaften nur gedachte Artifakte sind, deren Existenz vollkommen ungesichert ist und auf einer Extrapolation der bekannten Naturgesetze beruhen, die astronomisch weit weg von dem ist, wofür man experimentelle Belege hat? Dann sollten Sie das jedesmal dazusagen.

Es ist weit schlimmer, als wenn man aus der Newtonschen Mechanik die fehlende Merkuraberration vorhersagt - und damit weit weniger gesichert als die inzwischen als falsch bekannte Newtonsche Vorhersage. Wenn man so will, sind Ihre Extrapolationen also wahrscheinlich mehr als falsch!

TomS hat Folgendes geschrieben:

Ich denke, das Problem ist, dass Sie meinen, mir ausreden zu müssen, dass alle diese Argumente zutreffend wären oder gar auf real existierende Entitäten führen. Das habe ich so nie gesagt – im Gegenteil.

Ich meine, Ihnen ausreden zu müssen, weit hergeholte Spekulationen als Fakten zu präsentieren. Insbesondere als Moderator sollten Sie moderierend wirken und statt Extreme zu propagieren (wie man denken kann aber beileibe nicht muss) sich auf das beschränken, wo 99% der für eine Frage kompetenten Physiker mit Ihnen übereinstimmen.

TomS hat Folgendes geschrieben:

Sie nehmen einen pragmatischen Standpunkt ein

... was jeder Moderator, der diesen Namen verdient, auch tun sollte....

TomS hat Folgendes geschrieben:

und versuchen zu zeigen, dass für bestimmte Größen (z.B. Matrixelemente) eine realistische Deutung sinnlos, unzulässig oder zumindest nicht zwingend ist. Kann man machen.

Die Matrixelemente und ihre Bedeutung schauen wir uns ja genauer an. Manches hat da eine Bedeutung, aber nur in genau festgelegten Kontexten, die Sie bereitwillig ignorieren.

TomS hat Folgendes geschrieben:

Ich wurde hier gefragt, was es denn mit dem einen oder anderen absurd erscheinenden Effekt auf sich hat. Meine Antwort war, dass es sich dabei um (mehr oder weniger gut abgesicherte) mathematische Konsequenzen der Theorie handelt,

Genau hier liegt das Problem. Die einzig korrekte Antwort ist, dass es sich dabei um (sehr wenig abgesicherte) mathematische Konsequenzen der Theorie handelt, die man dadurch bekommt, dass man Plausibilität auf Plausibilität häuft, und bei jedem Schritt Annahmen machen muss, die nichts mit Mathematik zu tun haben, sondern alle nur lose mit dem Kontext, unter denen seriöse Physiker ihre Vorhersagen machen, zusammenhängen. Unsinn rein - Unsinn raus.

Beschränken wir uns also lieber mal auf die Diskussion der obigen mit ++++ markierten Eingangsfrage, und schauen, was am Ende unserer Diskussion noch úbrig bleibt.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 17. Mai 2024 21:46    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Weil es sich um die Vorhersage einer perfekt funktionierenden Theorie im Rahmen des bisher bestätigten Gültigkeitsbereiches handelt.


Warum bloss sind derart winzige Wahrscheinlichkeiten ''im Rahmen des bisher bestätigten Gültigkeitsbereiches''???
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18303

Beitrag TomS Verfasst am: 17. Mai 2024 23:15    Titel: Antworten mit Zitat

Sorry, dass ich damit nicht einverstanden bin.

TomS hat Folgendes geschrieben:
Nochmal: ich behaupte nicht, dass all diese Artefakte existieren, ich behaupte lediglich, dass sie aus sinnvollen [rechnerischen] Überlegungen im Rahmen etablierter Theorien folgen.

TomS hat Folgendes geschrieben:
Ich wurde hier gefragt, was es denn mit dem einen oder anderen absurd erscheinenden Effekt auf sich hat. Meine Antwort war, dass es sich dabei um (mehr oder weniger gut abgesicherte) mathematische Konsequenzen der Theorie handelt …

Der Meinung bin ich immer noch.

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Genau hier liegt das Problem. Die einzig korrekte Antwort ist, dass es sich dabei um (sehr wenig abgesicherte) mathematische Konsequenzen der Theorie handelt, die man dadurch bekommt, dass man Plausibilität auf Plausibilität häuft, und bei jedem Schritt Annahmen machen muss, die nichts mit Mathematik zu tun haben, sondern alle nur lose mit dem Kontext, unter denen seriöse Physiker ihre Vorhersagen machen, zusammenhängen. Unsinn rein - Unsinn raus.

Wenn Sie meinen, dass alle zitierten Physiker Unsinn verzapfen, werden ich Sie wohl nicht vom Gegenteil überzeugen können.

Halten Sie die Berechnungen zum Tunneleffekt makroskopischer Körper, zu makroskopischen thermischen Fluktuationen, zu beliebigen (!) Feldkonfigurationen im Pfadintegral … Everett's "viele Welten" … für mathematisch sehr wenig abgesichert? für unplausibel? für unseriös? für Unsinn?

TomS hat Folgendes geschrieben:
Ich denke, das Problem ist, dass Sie meinen, mir ausreden zu müssen, dass alle diese Argumente zutreffend wären oder gar auf real existierende Entitäten führen. Das habe ich so nie gesagt – im Gegenteil.

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Ich meine, Ihnen ausreden zu müssen, weit hergeholte Spekulationen als Fakten zu präsentieren.

Ich habe derartiges nie als Fakten präsentiert!

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:
Weil es sich um die Vorhersage einer perfekt funktionierenden Theorie im Rahmen des bisher bestätigten Gültigkeitsbereiches handelt.

Warum bloss sind derart winzige Wahrscheinlichkeiten ''im Rahmen des bisher bestätigten Gültigkeitsbereiches''???

Weil man dabei die Quantenmechanik auf Systeme bzw. Systemgrößen anwendet, bei denen sie üblicherweise perfekt funktioniert – das bedeutet für mich "innerhalb des Gültigkeitsbereiches". Man berechnet makroskopische Quanteneffekte wie Supraleitung, Quantenflüssigkeiten u.v.a.m. Was spricht nun Ihrer Meinung nach dagegen, das Tunneln eines Steines durch die Wand zu berechnen und das Ergebnis für plausibel zu halten? Welches Ergebnis hielten Sie für plausibel? Aufgrund welcher experimentellen Fakten entscheiden wir, wer recht hat?

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Beschränken wir uns also lieber mal auf die Diskussion der obigen mit ++++ markierten Eingangsfrage, und schauen, was am Ende unserer Diskussion noch übrig bleibt.

Das können wir sehr gerne tun. Ich schlage dazu einen neuen Thread vor, dieser hier hat keinen guten Verlauf genommen.

_________________
Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.
fgdfgdfgdfgdfg
Gast





Beitrag fgdfgdfgdfgdfg Verfasst am: 18. Mai 2024 01:28    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Das können wir sehr gerne tun. Ich schlage dazu einen neuen Thread vor, dieser hier hat keinen guten Verlauf genommen.

Wieso das denn, diesen Thread anpinnen für die Ewigkeit!
Aruna



Anmeldungsdatum: 28.07.2021
Beiträge: 881

Beitrag Aruna Verfasst am: 18. Mai 2024 06:42    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Aruna hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Wenn der Formalismus X und Y vorhersagt, warum soll ich X glauben und Y nicht, nur weil mir Y absurd erscheint, und ohne dass ich Y experimentell widerlegen könnte?

Warum soll man - im naturwissenschaftlichen Kontext - überhaupt etwas glauben, also ohne hinreichenden Beleg für wahr halten?

Weil es sich um die Vorhersage einer perfekt funktionierenden Theorie im Rahmen des bisher bestätigten Gültigkeitsbereiches handelt.


Wie wird dieser "Rahmen des bisher bestätigten Gültigkeitsbereiches" denn abgesteckt, wenn da eine Aussage reinfällt, die bisher nicht bestätigt wurde und eventuell gar nicht bestätigt werden kann?
Hat der bestätigte Gültigkeitsbereich vielleicht nicht nur einen Rahmen, sondern auch innerhalb dieses Rahmens Löcher?

Apropos: Wie steckt eigentlich die Periheldrehung des Merkur den Gültigkeitsbereich der newtonschen Theorie ab?
In dem von Dir verlinkten PDF steht:

Zitat:
Thus we are trying to characterise the circumstances in which we know and can trust the validity of Newton’s equations, such as those provided e.g. by the gravitational field of the earth or the sun, the gravitational fields in which Newton’s laws were discovered and tested


Der Merkur befindet sich doch vor allem im Gravitationsfeld der Sonne?
Oder ist der so nah an der Sonne, dass das im Anschluss genannte Kriterium "schwache Felder" nicht mehr gegeben ist?


TomS hat Folgendes geschrieben:

Aruna hat Folgendes geschrieben:
Wäre hier - wo man nicht weiß - (kritisch) rational nicht eine agnostische Haltung passender?


Die nimmt man doch ein.


Wenn man etwas für wahr hält, von dem man nicht weiß, ob es wahr ist?
IMO nein.

TomS hat Folgendes geschrieben:

Da Y eine mathematische Konsequenz einer empirisch nicht widerlegt jedoch in vielerlei Hinsicht bestätigten Theorie ist, halte ich die Hypothese Y für zutreffend, weiß jedoch, dass ich deren Wahrheitsgehalt nie prüfen kann. Was ist daran verkehrt?


"Verkehrt" scheint mir ein Synonym für "falsch".
Wenn man den Wahrheitsgehalt einer Hypothese nicht prüfen kann, kann man auch nicht entscheiden, ob es falsch ist, die Hypothese für wahr zu halten.

TomS hat Folgendes geschrieben:

würdest du "aufgrund des gesunden Menschenverstandes halte ich die Hypothese Y für falsch" der Hypothese "aufgrund einer präzisen Berechnung im Rahmen der Quantenmechanik halte ich die Hypothese Y für wahr" vorziehen?


Das kommt drauf an, was mit dem "gesunden Menschenverstand" genau gemeint ist.
Grundsätzlich ziehe ich es vor, das, von dem ich nicht weiß, ob es wahr ist, auch nicht für wahr zu halten.
Es kann natürlich Gründe geben, sich für eine Meinung zu entscheiden.
Z.B. könnte die Meinung, dass vor mir alles Mögliche plötzlich entstehen könne, doch mein Vertrauen in die Verlässlichkeit der Welt erschüttern.
Man stelle sich vor, ich würde ernsthaft damit rechnen, dass vor mir auf der Autobahn plötzlich ein Bierkasten oder gar der FC Bayern auftaucht, oder sich die Luft in dem Raum, in dem ich mich aufhalte, in einer Ecke konzentriert.
(Ich weiß ja nicht, wie genau dieser Thread Mister-X ein schlaflose Nacht bereitete....)
TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 18. Mai 2024 07:36    Titel: Antworten mit Zitat

Aruna hat Folgendes geschrieben:
Wie wird dieser "Rahmen des bisher bestätigten Gültigkeitsbereiches" denn abgesteckt, wenn da eine Aussage reinfällt, die bisher nicht bestätigt wurde und eventuell gar nicht bestätigt werden kann?

Man hat bisher Systeme einer bestimmten Größe, Teilchenzahl, Energie, Beschaffenheit … berechnet, und diese Vorhersagen wurden im Rahmen sorgfältiger Experimente immer bestätigt, nie falsifiziert; das steckt für mich den bisherigen Gültigkeitsbereich ab. Im Falle der Quantenmechanik ist das einfach alles (!) was man jemals berechnet und gemessen hat; es hat sich immer (!) als richtig erwiesen.

Zu
Aruna hat Folgendes geschrieben:
Wenn man etwas für wahr hält, von dem man nicht weiß, ob es wahr ist?
IMO nein.

s.o.:
TomS hat Folgendes geschrieben:
… Weil es sich um die Vorhersage einer perfekt funktionierenden Theorie im Rahmen des bisher bestätigten Gültigkeitsbereiches handelt. Damit ist es nicht wahr, aber die Hypothese, dass es wahr ist, ist rational. Seriös ist es dann, diese Hypothese kritisch zu hinterfragen.

Inwiefern ist es denn nicht agnostisch, zu sagen, ich halte eine Hypothese für wahr, weil ich sie seriös hergeleitet habe, kenne ihren Wahrheitsgehalt jedoch (noch) nicht?

Aruna hat Folgendes geschrieben:
"Verkehrt" scheint mir ein Synonym für "falsch".
Wenn man den Wahrheitsgehalt einer Hypothese nicht prüfen kann, kann man auch nicht entscheiden, ob es falsch ist, die Hypothese für wahr zu halten.

Nein, "verkehrt" ist eher ein Synonym für "nicht rational". Ich argumentiere lediglich, dass es in einer kritischen Wissenschaft rational sein kann, bisher nicht überprüfte Hypothesen für wahr zu halten, wenn sie seriös zustande gekommen sind. Zum Beispiel hielt man die Existenz der W- und Z-Bosonen aus rationalen Gründen für wahr – obwohl dies mit einer Extrapolation des Energiebereiches einherging.

Ich habe den Eindruck, du warst noch nie dabei, wenn sich erfahrene Physiker über den Wahrheitsgehalt einer neuen Hypothese H streiten. Sollen sie ihre eigene Hypothese für falsch halten? Warum? Weil sie vermuten, sich verrechnet zu haben? Weil sie unlogisch argumentieren? Weil sie systematische Fehler begehen? Natürlich halten sie ihre eigene Hypothese für wahr (andere im Raum halten diese für falsch). Das macht H nicht wahr (oder falsch), aber diese beiden Haltungen zu H sind rational, wenn sie auf seriöse Weise gewonnen wurden. Und mit diesem Dissens (aber auch bei Konsens) geht man zum Experimentalphysiker und erklärt ihm, was er prüfen soll; das macht das Ganze zu einer kritischen Wissenschaft.


Was konkret würdest du denn zu der Frage des Tunnels makroskopischer Objekte sagen? Wie würdest du die Hypothese kritisieren, dass deren Tunnelwahrscheinlichkeit größer Null ist?

_________________
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A.Neumaier
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Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 18. Mai 2024 14:45    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Man hat bisher Systeme einer bestimmten Größe, Teilchenzahl, Energie, Beschaffenheit … berechnet, und diese Vorhersagen wurden im Rahmen sorgfältiger Experimente immer bestätigt, nie falsifiziert; das steckt für mich den bisherigen Gültigkeitsbereich ab. Im Falle der Quantenmechanik ist das einfach alles (!) was man jemals berechnet und gemessen hat; es hat sich immer (!) als richtig erwiesen.

Wir haben jetzt knapp 100 Jahre nach Heisenberg's Quantenmechanik. Dass sich alles in dieser Zeit immer als richtig erwies, bedeutet dass man Vorhersagen innerhalb des _nachgeprüften_ Bereichs (und wohl ein wenig Extrapolation) trauen kann. Die Situation ist genau dieselbe wie 100 Jahre nach Newton, wo man dasselbe auch für seine Mechanik sagen konnte. Trotzdem erwies sich die Vorhersage der Merkurbahn aus seiner Theorie als falsch.

Rational gesehen, bedeutet also die obige Situation, dass man Vorhersagen extrem weit ausserhalb des nachgeprüften Bereichs nicht trauen kann. Denn wir haben zweimal dieselbe Situation und dasselbe Argument, und in einem der beiden Fälle weiss man, dass das Resultat nicht stimmt. Damit ist die mangelnde Logik des Arguments schon bewiesen.

Rational ist statt dessen, moderat zu denken und sein Urteil zurückzustellen. Hoffen, dass die Vorhersagen stimmen, (und deshalb Papers darüber schreiben) kann man ja, aber Hoffnung macht noch lange keine Physik.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 18. Mai 2024 15:19    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Halten Sie die Berechnungen zum Tunneleffekt makroskopischer Körper, zu makroskopischen thermischen Fluktuationen, zu beliebigen (!) Feldkonfigurationen im Pfadintegral [...] für mathematisch sehr wenig abgesichert?

In den ersten beiden Fällen liegen die Wahrscheinlichkeiten für makroskopisches Ausnahmeverhalten schon um viele Grössenordnungen unterhalb desen, was man nachprüfen kann, also weit, weit ausserhalb des bestätigten Gültigkeitsbereich.

Wenn ein Physiker im Zirkus einen Zauberer sieht, der sagt, er könne Tauben aus dem Nichts erscheinen lassen, und dies dann auch anscheinend tut, glaubt er wohl kaum, dass er ein makroskopisches Tunnel- oder Fluktuationserlebnis hatte, sondern sucht nach einer rationalen Erklärung. Ebenso kann man in der Physik mit extrem hoher Signifikanz alles ablehnen, was mit derart winzigen Wahrscheinlichkeiten theoretisch geschehen könnte. Es ist immer viel wahrscheinlicher, dass man im Setup nicht alle Einflüsse korrekt berücksichtigt hatte. Winzige Wahrscheinlichkeiten weit unterhalb der statistischen Messbarkeitsgrenze sind physikalisch eben vollkommen sinnlos.

Mathematisch 100% abgesicherte Rechnungen zu Tunnelling und Thermodynamik kann man also zwar machen. Es hapert aber an der physikalischen Interpretation der Ergebnisse!


Das Pfadintegral für wechselwirkende Quantenfelder ist mathematisch allerdings überhaupt nicht abgesichert.

Und die Many-Word-Interpretation der Quantenmechanik macht zwar viele Worte, aber postuliert ohne empirische Notwendigkeit gleich zu Anfang unendlich viele prinzipiell nicht testbare Welten, woraus sie natürlich lauter ebenfalls nie nachprüfbaren Unsinn herleiten kann. Blabla in Reinkultur.

Wegen +++++: Wie mache ich einen neuen Thread auf, in dem ich aus dem jetzigen Thread zitieren kann?
Aruna



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Beitrag Aruna Verfasst am: 18. Mai 2024 16:22    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Ich habe den Eindruck, du warst noch nie dabei, wenn sich erfahrene Physiker über den Wahrheitsgehalt einer neuen Hypothese H streiten.
Sollen sie ihre eigene Hypothese für falsch halten?


Mal abgesehen davon, dass das auch keine agnostische Haltung wäre,
Haben zumindest Teile dieses (IMO idealistischen) Beitrags einen Daumen hoch von Dir bekommen:

willyengland hat Folgendes geschrieben:
Ich habe das Falsifikationsprinzip immer so gesehen, dass es eine Art Arbeitsanweisung für den Forscher ist.
Versuche keine Pet-Theories zu haben, sondern versuche, deine Theorien zu widerlegen. Spiele den Advokatus Diaboli. Hinterfrage alles. Teste alles. Denke dir Experimente aus, die deine Thesen widerlegen könnten usw. Bleibe immer kritisch, skeptisch.


Wenn natürlich einer oder mehrere im Raum sind, oder zumindest in der Community, die die Hypothese für falsch halten, dann braucht der einzelne nicht selbst den Advokatus Diaboli spielen...

TomS hat Folgendes geschrieben:

Natürlich halten sie ihre eigene Hypothese für wahr (andere im Raum halten diese für falsch).
Das macht H nicht wahr (oder falsch), aber diese beiden Haltungen zu H sind rational, wenn sie auf seriöse Weise gewonnen wurden


Inwiefern kann man auf seriöse Weise zu zwei entgegengesetzten rationalen Haltungen bezüglich des Wahrheitsgehaltes einer Hypothese kommen, wenn sich niemand verrechnet oder unlogisch argumentiert?

TomS hat Folgendes geschrieben:

Und mit diesem Dissens (aber auch bei Konsens) geht man zum Experimentalphysiker und erklärt ihm, was er prüfen soll;


Der dann hoffentlich unvoreingenommen prüft...
(Gab es nicht schon mindestens einen Physiker der von seiner Hypothese so sehr überzeugt ware, dass er sich passende Messreihen einfach ausgedacht hat?)

TomS hat Folgendes geschrieben:

Was konkret würdest du denn zu der Frage des Tunnels makroskopischer Objekte sagen? Wie würdest du die Hypothese kritisieren, dass deren Tunnelwahrscheinlichkeit größer Null ist?


Was passiert genau mit dem makroskopischen Objekt im "verbotenen" Bereich?
Ist das mit der Quantendekohärenz vereinbar?
A.Neumaier
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Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 18. Mai 2024 16:43    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Man hat bisher Systeme einer bestimmten Größe, Teilchenzahl, Energie, Beschaffenheit … berechnet, und diese Vorhersagen wurden im Rahmen sorgfältiger Experimente immer bestätigt, nie falsifiziert; das steckt für mich den bisherigen Gültigkeitsbereich ab.

Das ist zwar mit der unbeweisbaren Hypothese vereinbar, dass der Gültigkeitsbereich grenzenlos ist, aber trotzdem ist der bisherige Gültigkeitsbereich nur der Teil, in dem die Theorie tatsächlich getestet worden ist.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 18. Mai 2024 20:19    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
scholarpedia.org/article/Shifman-Vainshtein-Zakharov_sum_rules
Shifman-Vainshtein-Zakharov sum rules
Mikhail Shifman (2013)

Shifman ist viel vorsichtiger als Sie, wenn er diese mathematischen Objekte interpretiert. Insbesondere betrachtet er in dem von Ihnen zitierten Artikel das Vakuum als leer:
Mikhail Shifman hat Folgendes geschrieben:

In order to study hadronic properties it is convenient to start from the empty space — the vacuum — inject there a quark-antiquark pair, and then follow the evolution of the valence quarks injected in the "vacuum medium." The injection is achieved by external currents.

Anders als Sie weiss er, dass man zum Vakuum etwas dazutun muss (hier einen externen Strom), damit dort etwas passiert!



TomS hat Folgendes geschrieben:

Inwiefern "gibt es all diese Dinge nicht mehr"?

Es gibt sie, aber sie haben nicht die physikalische Bedeutung, die Sie ihnen unterstellen.

TomS hat Folgendes geschrieben:

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Ausserdem existieren Instantonen nicht im Vakuum, sondern verbinden mehrere solche, und auch dies nur vor der Renormierung. Im physikalischen Vakuum gibt es auch diese nicht mehr!

Da würde mich eine Quelle interessieren.

In der folgenden, von Ihnen genannten Quelle steht das explizit drin:
Schaefer and Shuryak hat Folgendes geschrieben:

Instantons are classical solutions to the euclidean equations of motion. They are characterized by a topological quantum number and correspond to tunneling events between degenerate classical vacua in Minkowski space. As in quantum mechanics, tunneling lowers the ground state energy. Therefore, instantons provide a simple understanding of the negative non-perturbative vacuum energy density.

Daraus sieht man auch, dass die Erwartungswerte in der Definition des Kondensats nicht die des physikalischen (stabilen) Vakuums sind, sondern die des unphysikalischen (instabilen) falschen Vakuums, das am lokalen Maximum des effektiven Potentials sitzt, zu dem deshalb kein Hilbertraum mit positiv definitem inneren Produkt gehört. Letzteres ist aber notwendig für eine konsistente Wahrscheinlichkeitsinterpretation. Die Matrixelemente, von denen Sie geredet haben, haben also mit dem physikalischen Vakuum (das wegen der Symmetriebrechung in einem globalen Minimum des effektiven Potentials sitzt) nichts zu tun.

TomS hat Folgendes geschrieben:

arxiv.org/abs/hep-ph/9610451
Instantons in QCD
T. Schaefer, E. Shuryak
Zitat:
... This brief outline indicates that instantons provide at least a qualitative understanding of many features of the
QCD ground state ...
we would like to test the underlying assumption that the topological
susceptibility, the gluon condensate, chiral symmetry breaking etc. are dominated by instantons
.

jghjjghsgfd
Gast





Beitrag jghjjghsgfd Verfasst am: 19. Mai 2024 02:00    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Man hat bisher Systeme einer bestimmten Größe, Teilchenzahl, Energie, Beschaffenheit … berechnet, und diese Vorhersagen wurden im Rahmen sorgfältiger Experimente immer bestätigt, nie falsifiziert; das steckt für mich den bisherigen Gültigkeitsbereich ab. Im Falle der Quantenmechanik ist das einfach alles (!) was man jemals berechnet und gemessen hat; es hat sich immer (!) als richtig erwiesen.

Darum geht es doch, man muss es testen können wenn man keine Chance hat rauszufinden ob es falsch ist, dann ist es.. Mist.
Aruna



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Beitrag Aruna Verfasst am: 19. Mai 2024 06:23    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:

Und die Many-Word-Interpretation der Quantenmechanik macht zwar viele Worte, aber postuliert ohne empirische Notwendigkeit gleich zu Anfang unendlich viele prinzipiell nicht testbare Welten,[...]


Wieso muss sie diese vielen Welten postulieren?
Sind die nicht schon in der Quantenmechanik enthalten und man muss vielmehr postulieren, dass die, bis auf eine, bei einer "Messung" verschwinden, um die Theorie mit der gemessenen Realität in Einklang zu bringen?

H. D. Zeh hat Folgendes geschrieben:
Der vollständige Verzicht auf einen Kollaps und auf jede andere Modifikation der
Schrödingergleichung führt schließlich zwangsläufig auf die extreme Viele-Welten-Konsequenz von Everett.
[...]
Man darf also so tun, als ob ein Kollaps in eine der autonomen Komponenten schon beim ersten irreversiblen Dekohärenzvorgang stattgefunden hätte.
Dekohärenz beschreibt also einen scheinbaren Kollaps in quasi-klassische Zustände.
Die Frage ist: Genügt das, wenn wir nur beschreiben wollen, was wir beobachten?
Dazu müssen wir zwar akzeptieren, daß wir nur eine der n-Komponenten wahrnehmen, aber ob und
wann die übrigen durch einen Kollaps aus der Realität verschwinden, bleibt uns verborgen.
Das Postulat irgendeines (späteren) Kollaps-Prozesses dient somit nur der Vermeidung der
ansonsten unvermeidbaren aber ungeliebten Everettschen Konsequenz “Vieler Welten”, während sich die Dekohärenz aus der unitären Dynamik ergab, die diese gerade verlangen.

https://www.thp.uni-koeln.de/gravitation/zeh/KarlsruheText.pdf
Aruna



Anmeldungsdatum: 28.07.2021
Beiträge: 881

Beitrag Aruna Verfasst am: 19. Mai 2024 06:36    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:

Wegen +++++: Wie mache ich einen neuen Thread auf, in dem ich aus dem jetzigen Thread zitieren kann?


Einen neuen Thread können Sie erstellen, in dem Sie auf der Startseite auf "Fragen" oder "Frage stellen" klicken.
TomS
Moderator


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Beiträge: 18303

Beitrag TomS Verfasst am: 19. Mai 2024 06:47    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Man hat bisher Systeme einer bestimmten Größe, Teilchenzahl, Energie, Beschaffenheit … berechnet, und diese Vorhersagen wurden im Rahmen sorgfältiger Experimente immer bestätigt, nie falsifiziert; das steckt für mich den bisherigen Gültigkeitsbereich ab. Im Falle der Quantenmechanik ist das einfach alles (!) was man jemals berechnet und gemessen hat; es hat sich immer (!) als richtig erwiesen.

Wir haben jetzt knapp 100 Jahre nach Heisenberg's Quantenmechanik. Dass sich alles in dieser Zeit immer als richtig erwies, bedeutet dass man Vorhersagen innerhalb des _nachgeprüften_ Bereichs (und wohl ein wenig Extrapolation) trauen kann …

Rational gesehen, bedeutet also die obige Situation, dass man Vorhersagen extrem weit ausserhalb des nachgeprüften Bereichs nicht trauen kann.

Richtig.

Und bei meinen Argumenten beziehe ich mich genau darauf.

Nur sind wir uns offenbar nicht einig, wie wir diesen Bereich definieren. Ich verstehe darunter eine Definition mittels Längen- oder Energieskalen, Teilchenzahlen, meinetwegen Temperaturen und Drücken … Im Beispiel des Tunnels eines makroskopischen Körpers ist all das sicher erfüllt; jeder der Parameter ist "typisch", das vorhergesagte Phänomen, dass auch makroskopische Körper eine von Null verschiedene Tunnelwahrscheinlichkeit haben, ist bewegt sich vollständig innerhalb dieses bisher gut abgesicherten Rahmens.

Übertragen auf die Newtonsche Mechanik wäre das zum Beispiel die Hypothese, dass Orbits in beliebig großen Planetensystemen den Newtonschen Gesetzen gehorchen. Dass wir das nicht nachprüfen können, hat nichts mit dem Gültigkeitsbereich der Newtonsche Mechanik zu tun, sondern mit der Schwierigkeit, genügend viele – also zumindest ein einziges – derartige Systeme zu finden und zu beobachten.

Genauso verhält es sich beim Tunneln. Werfen Sie genügend viele Steine an die Wand und zählen sie die Häufigkeiten des Tunnels.

Ich würde sagen, es gibt genügend Physiker, die meine Meinung unterschreiben. Ich gebe jedoch gerne zu, dass auch Ihre Meinung rational ist. Zum Beispiel würde Penrose seine Idee zitieren, dass hier eine Modifikation (oder ggf. eine fundamental neue Theorie) aufgrund der Gravitation ins Spiel kommen muss.

Höchstens einer kann recht haben, d.h. höchstens eine der beiden Hypothesen kann (nach Popper) wahr, oder auch beide Hypothesen können falsch sein, auch wenn wir darüber möglicherweise nie ein ausweichendes Maß an Sicherheit (auch nach Popper) erreichen können. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese sich widersprechenden Hypothesen nicht beide auf Basis rationaler Argumente gewonnen wurden.


Zuletzt bearbeitet von TomS am 19. Mai 2024 08:03, insgesamt einmal bearbeitet
Aruna



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Beiträge: 881

Beitrag Aruna Verfasst am: 19. Mai 2024 07:05    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Übertragen auf die Newtonsche Mechanik wäre das zum Beispiel die Hypothese, dass die Orbits in beliebig großen Planetensystemen den Newtonschen Gesetzen gehorchen. Dass wir das nicht nachprüfen können, hat nichts mit dem Gültigkeitsbereich der Newtonsche Mechanik zu tun, sondern mit der Schwierigkeit, genügend viele – also zumindest ein einziges – derartiges System zu finden.


Hier wiederhole ich meine obige Frage, inwiefern die Periheldrehung des Merkur nicht in den Gültigkeitsbereich der Newtonschen Theorie passt:

Aruna hat Folgendes geschrieben:
Wie steckt eigentlich die Periheldrehung des Merkur den Gültigkeitsbereich der newtonschen Theorie ab?
In dem von Dir verlinkten PDF steht:

Zitat:
Thus we are trying to characterise the circumstances in which we know and can trust the validity of Newton’s equations, such as those provided e.g. by the gravitational field of the earth or the sun, the gravitational fields in which Newton’s laws were discovered and tested


Der Merkur befindet sich doch vor allem im Gravitationsfeld der Sonne?
Oder ist der so nah an der Sonne, dass das im Anschluss genannte Kriterium "schwache Felder" nicht mehr gegeben ist?


Die auftretenden Geschwindigkeiten sind auch klein gegen c und die Felder ausreichend statisch, oder?

TomS hat Folgendes geschrieben:
Im Beispiel des Tunnels eines makroskopischen Körpers ist all das sicher erfüllt; jeder der Parameter ist "typisch", das vorhergesagte Phänomen, dass auch makroskopische Körper eine von Null verschiedene Tunnelwahrscheinlichkeit haben, ist bewegt sich vollständig innerhalb dieses bisher gut abgesicherten Rahmens.


würde makroskopisches Tunneln nicht der newtonschen Theorie widersprechen?
Oder ist es im Einklang mit dieser, weil der tunnelnde Körper nicht über den Potentialwall rollt, sondern irgendwie durch eine eigentlich für diesen Körper undurchdringliche Wand gelangt, und Newton keine Aussagen über Undurchdringbarkeit von Wänden macht?


Zuletzt bearbeitet von Aruna am 19. Mai 2024 07:56, insgesamt einmal bearbeitet
TomS
Moderator


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Beiträge: 18303

Beitrag TomS Verfasst am: 19. Mai 2024 07:48    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Halten Sie die Berechnungen zum Tunneleffekt makroskopischer Körper, zu makroskopischen thermischen Fluktuationen, zu beliebigen (!) Feldkonfigurationen im Pfadintegral [...] für mathematisch sehr wenig abgesichert?

In den ersten beiden Fällen liegen die Wahrscheinlichkeiten für makroskopisches Ausnahmeverhalten schon um viele Grössenordnungen unterhalb desen, was man nachprüfen kann, also weit, weit ausserhalb des bestätigten Gültigkeitsbereich.

Ich wäre nie auf die Idee gekommen, den Gültigkeitsbereich der QM über die Wahrscheinlichkeit zu beschränken.

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Winzige Wahrscheinlichkeiten weit unterhalb der statistischen Messbarkeitsgrenze sind physikalisch eben vollkommen sinnlos.

Das hat m.E. wenig mit den Wahrscheinlichkeiten zu tun, sondern ist eine Frage der Häufigkeiten, des experimentellen Setups, der notwendigen Dauer der Messung etc.

Und das bedeutet nach Popper nichts bzgl. der Rationalität der Hypothesen oder deren Wahrheitsgehalt, sondern bzgl. des Grades an Sicherheit, den wir erreichen können.

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Mathematisch 100% abgesicherte Rechnungen zu Tunnelling und Thermodynamik kann man also zwar machen. Es hapert aber an der physikalischen Interpretation der Ergebnisse!

Das verstehe ich nicht. Eine Wahrscheinlichkeit p > 0 bedeutet, dass ich bei N Versuchen im Mittel Z > 0 Tunnelereignisse zähle. Inwiefern ändert sich die physikalische Interpretation, nur weil wir für ein Z=10 eine praktisch nicht erreichbares N benötigen? Das betrifft doch nur die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Überprüfung einer zuvor mittels vernünftiger Argumente gewonnen Hypothese; es macht doch diese Hypothese nicht unvernünftig.


A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Und die Many-Word-Interpretation der Quantenmechanik macht zwar viele Worte, aber postuliert ohne empirische Notwendigkeit gleich zu Anfang unendlich viele prinzipiell nicht testbare Welten, woraus sie natürlich lauter ebenfalls nie nachprüfbaren Unsinn herleiten kann. Blabla in Reinkultur.

Es ist schon irritierend, wie Sie da über Kollegen reden. Ich habe vor kurzem eine Diskussion zwischen Sir Roger Penrose und Simon Saunders verfolgt; Penrose war da deutlich moderater.

Ein Grundmissverständnis ist außerdem, dass die Many-Word-Interpretation diese unendlich viele nicht testbaren Welten nicht postuliert, sondern ihre – aus der unitären Zeitentwicklung inkl. Dekohärenz folgende – mathematische Existenz auch als reale Existenz akzeptiert. Siehe oben das Zitat von Zeh, demzufolge man auch einen Kollaps als zumindest überflüssig ansehen kann.

Das ist aber eine philosophische und keine empirische Frage und führt hier wohl zu nichts.

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TomS
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Beitrag TomS Verfasst am: 19. Mai 2024 08:02    Titel: Antworten mit Zitat

Die Diskussion des nicht-perturbativen Vakuums der QCD muss ich für meinen Teil zurückstellen, da ich erst mal im Urlaub bin.

Mich würde aber ohnehin am meisten die Thermal Interpretation interessieren, die Professor Neumaier entwickelt hat. Wir haben hier viel über sie diskutiert, jedoch leider nie mit ihm. Ich würde es extrem begrüßen, wenn wir dazu konkret Fragen stellen dürften.

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Aruna



Anmeldungsdatum: 28.07.2021
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Beitrag Aruna Verfasst am: 19. Mai 2024 08:07    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:

Mich würde aber ohnehin am meisten die Thermal Interpretation interessieren, die Professor Neumaier entwickelt hat. Wir haben hier viel über sie diskutiert, jedoch leider nie mit ihm. Ich würde es extrem begrüßen, wenn wir dazu konkret Fragen stellen dürften.


Thumbs up!

Das würde mich auch interessieren!
(Vielleicht auch mal die Idee dahinter, für mathematisch nicht so gebildete Menschen skizzieren)
TomS
Moderator


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Beitrag TomS Verfasst am: 19. Mai 2024 10:07    Titel: Antworten mit Zitat

@Aruna – zu deiner Frage zur Periheldrehung muss ich nochmal nachdenken.
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Mister_X
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Beitrag Mister_X Verfasst am: 19. Mai 2024 11:59    Titel: Antworten mit Zitat

Oder kann beides angesprochen werden, sowohl die Diskussion zum Vakuum als auch die Thermal Interpretation?

Mich würde immerhin noch interessieren, wie TomS auf die makroskopischen Fluktuationen kommt....immerhin sagt ja Herr Professor Neumeier, dass es sich dabei ja um mathematische Artefakte und keine physischen Objekte handelt (was zumindest für mich als Laie plausibel klingt).
Mister_X
Gast





Beitrag Mister_X Verfasst am: 19. Mai 2024 13:01    Titel: Antworten mit Zitat

*Neumaier (war der Autokorrektur geschuldet)
TomS
Moderator


Anmeldungsdatum: 20.03.2009
Beiträge: 18303

Beitrag TomS Verfasst am: 19. Mai 2024 13:53    Titel: Antworten mit Zitat

Aruna hat Folgendes geschrieben:
Hier wiederhole ich meine obige Frage, inwiefern die Periheldrehung des Merkur nicht in den Gültigkeitsbereich der Newtonschen Theorie passt ...

Die Geodätengleichung für die Schwarzschild-Geometrie lautet



bzw. dimensionslos



steht für die Ableitung nach der Eigenzeit.

Die Energie lautet



Der Drehimpulsterm lautet





wobei u die Tangentialgeschwindigkeit bezeichnet.

Nummeriert man die Terme in den beiden Klammern mit A, B, C, D, so gilt:

AC cancelled mit dem führenden Term aus der der Energie.
BC liefert das Newtonsche Gravitationspotential.
AD liefert den Drehimpulsterm.
BD ist die relativistische Korrektur.

Interessanterweise steckt die gesamte Newtonsche Bewegungsgleichung in den Termen erster Ordnung, d.h. die Näherungen





sind für sich genommen offensichtlich unzulässig; erst die zweite Ordnung stellt die relativistische Korrektur dar.
Aruna



Anmeldungsdatum: 28.07.2021
Beiträge: 881

Beitrag Aruna Verfasst am: 20. Mai 2024 04:16    Titel: Antworten mit Zitat

TomS hat Folgendes geschrieben:
Aruna hat Folgendes geschrieben:
Hier wiederhole ich meine obige Frage, inwiefern die Periheldrehung des Merkur nicht in den Gültigkeitsbereich der Newtonschen Theorie passt ...

Die Geodätengleichung für die Schwarzschild-Geometrie lautet



bzw. dimensionslos



steht für die Ableitung nach der Eigenzeit.

Die Energie lautet



Der Drehimpulsterm lautet





wobei u die Tangentialgeschwindigkeit bezeichnet.

Nummeriert man die Terme in den beiden Klammern mit A, B, C, D, so gilt:

AC cancelled mit dem führenden Term aus der der Energie.
BC liefert das Newtonsche Gravitationspotential.
AD liefert den Drehimpulsterm.
BD ist die relativistische Korrektur.
[...]


Danke

D.h. die Abweichung der newtonschen Theorie von der ART steckt in dem Term



der wird ja nur 0 für u = 0, M = 0 oder r = unendlich?
D.h. wenn eine Masse in endlicher Reichweite vorhanden ist, stimmt NT nur dann exakt mit ART überein, wenn keine Tangentialgeschwindigkeit bezüglich dem Massenmittelpunkt vorliegt, also für Körper die zentral auf den Massenmittelpunkt der Masse M zufallen, was bei Merkur offensichtlich nicht der Fall ist.
In allen anderen Fällen hängt es von der erreichbaren Messgenauigkeit ab, ob man Newton falsifizieren kann oder nicht.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 20. Mai 2024 21:20    Titel: Antworten mit Zitat

Aruna hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:

Und die Many-Word-Interpretation der Quantenmechanik macht zwar viele Worte, aber postuliert ohne empirische Notwendigkeit gleich zu Anfang unendlich viele prinzipiell nicht testbare Welten,[...]


Wieso muss sie diese vielen Welten postulieren?
Sind die nicht schon in der Quantenmechanik enthalten

Wo sind die enthalten? Von 1925 bis 1957 hat sie niemand dort entdecken können, waren sie vielleicht zu winzig?

Wenn Everett gewisse mathematische Terme einfach Welten nennt, dann sind diese Welten dürftige statische Zeichenketten, in ihrer physikalischen Bedeutung völlig unvergleichbar mit unserer dynamischen Welt!

Aruna hat Folgendes geschrieben:
und man muss vielmehr postulieren, dass die, bis auf eine, bei einer "Messung" verschwinden, um die Theorie mit der gemessenen Realität in Einklang zu bringen?

Die Theorie war auch vor Everett schon in sehr gutem Einklang mit der Realität.

Aruna hat Folgendes geschrieben:

H. D. Zeh hat Folgendes geschrieben:
Der vollständige Verzicht auf einen Kollaps und auf jede andere Modifikation der
Schrödingergleichung führt schließlich zwangsläufig auf die extreme Viele-Welten-Konsequenz von Everett.

Aber wer will denn auf den Kollaps verzichten, der schon fast 100 Jahre lang ausgezeichnete Dienste tut? Während Everett's Welten nichts ausser Spekulationen zur Physik beigetragen haben. Wenn Zeh in einer QM1-Vorlesung die Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten für konkrete Experimente beschreibt, macht er impliizit bestimmt an verschiedenen Stellen vom Kollaps Gebrauch.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 20. Mai 2024 22:14    Titel: Antworten mit Zitat

Mister_X hat Folgendes geschrieben:

Mich würde immerhin noch interessieren, wie TomS auf die makroskopischen Fluktuationen kommt....immerhin sagt ja Herr Professor Neumeier, dass es sich dabei ja um mathematische Artefakte und keine physischen Objekte handelt (was zumindest für mich als Laie plausibel klingt).

Dss wird wohl in meinem neuen Beitrag im Quantenphysik-Forum zur Sprache kommen.
Aruna



Anmeldungsdatum: 28.07.2021
Beiträge: 881

Beitrag Aruna Verfasst am: 20. Mai 2024 22:45    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Aruna hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:

Und die Many-Word-Interpretation der Quantenmechanik macht zwar viele Worte, aber postuliert ohne empirische Notwendigkeit gleich zu Anfang unendlich viele prinzipiell nicht testbare Welten,[...]


Wieso muss sie diese vielen Welten postulieren?
Sind die nicht schon in der Quantenmechanik enthalten

Wo sind die enthalten? Von 1925 bis 1957 hat sie niemand dort entdecken können, waren sie vielleicht zu winzig?


Hatte Schrödinger nicht schon 1935 zumindest (eine Superposition aus) zwei Katzen entdeckt, die aus einer Katze bei der (vermittelten) Wechselwirkung mit einem Superpositionszustandes eine radioaktiven Atoms entstehen?
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 21. Mai 2024 10:39    Titel: Antworten mit Zitat

Habe zu den hier noch offenen Fragen zur Quantenphysik eine Reihe neuer Threads begonnen, damit die Physik dort behandelt wird und wir hier zum eigentlichen Thema Falsifikation zurückkehren können.
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 21. Mai 2024 11:42    Titel: Antworten mit Zitat

Aruna hat Folgendes geschrieben:

Also in dem oben verlinkten Artikel und in der Diskussion geht es schon um Theorien.
Im speziellen um die Frage, ob die Newtonsche Theorie nun falsifiziert sei oder nur in ihrer Gültigkeit beschränkt.
Im verlinkten Artikel steht:

Zitat:
And Newton's theory will never be falsified, unless God suddenly decides to change the physics of the Universe.The degree of caution and care at the highest level of quality has been increasing through the centuries. It is now too late to ask Newton whether he believed his theory was valid without restrictions. (Or are there any hints in the Principia Mathematica?) Certainly Newton's theory as taught today is valid as taught (i.e., with the restriction that speeds are small compared to c and at distances large compared to the radius of the largest atom). But we nevertheless believe that it is the 'same' theory, and if Newton would live today, I think he would agree with that.
And Newton's theory will never be falsified, unless God suddenly decides to change the physics of the Universe.


Im Gegensatz denken sowohl Mister_X wie auch ich halt, dass die Theorie falsifiziert wurde, eben dort wo Abweichungen der Vorhersagen von Messungen gefunden wurde. Z.B. bei der Periheldrehung des Merkur.

Wir haben aus der Koexistenz der Newtonschen Mechanik und der allgemeinen Relativitätstheorie gelernt, dass zu einer physikalischen Theorie immer ein verifizierter Gültigkeitsbereich gehört. Dieser Gültigkeitsbereich bezieht sich auf die Genauigkeit der numerischen Vorhersagen sowie die Grössenbereiche, innerhalb derer die experimentellen Parameter gewählt werden können.

Innerhalb diesem ist sie zuverlässig und kann daher (trotz Popper) nicht falsifiziert werden. Statt dessen wird die Theorie angewandt und produziert zuverlässige Technologie.

Ausserhalb diesem ist es eine Hypothese mit unbekanntem Wahrhaltsgehalt, und die rationale Haltung dazu ist es, weder deren Wahrheit noch deren Falschheit zu behaupten, da man weder für das eine noch für das andere Beweise hat.

Da man die Genauigkeit von Vorhersagen nur statistisch abschätzen kann, bilden die Grenzen des verifizierten Gültigkeitsbereich eine breite Grauzone, in der man erwarten kann, dass die Theorie auch noch gilt, aber ohne sich dessen sicher zu sein. Daher prüft man in diesem Grenzbereich sowohl die etablierte Theorie als auch ihre Alternativen. Da durch entsprechene Experimente die Grenzen des Gültigkeitsbereichs besser bekannt werden, kann beides als rationales Vorgehen gelten, solange man nicht behauptet, ''das ist so'', sondern nur ''das sagt die Theorie vorher''.

TomS hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
TomS hat Folgendes geschrieben:

Halten Sie die Berechnungen zum Tunneleffekt makroskopischer Körper, zu makroskopischen thermischen Fluktuationen, zu beliebigen (!) Feldkonfigurationen im Pfadintegral [...] für mathematisch sehr wenig abgesichert?

In den ersten beiden Fälen liegen die Wahrscheinlichkeiten für makroskopisches Ausnahmeverhalten schon um viele Grössenordnungen unterhalb desen, was man nachprüfen kann, also weit, weit ausserhalb des bestätigten Gültigkeitsbereich.

Ich wäre nie auf die Idee gekommen, den Gültigkeitsbereich der QM über die Wahrscheinlichkeit zu beschränken.

Ja, man lernt nie aus!
TomS hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
t;]Winzige Wahrscheinlichkeiten weit unterhalb der statistischen Messbarkeitsgrenze sind physikalisch eben vollkommen sinnlos.

Das hat m.E. wenig mit den Wahrscheinlichkeiten zu tun, sondern ist eine Frage der Häufigkeiten, des experimentellen Setups, der notwendigen Dauer der Messung etc.

Das sind alles experimentelle Parameter, deren Grösse die Ergebnisse beeinflussen. Wenn man die Gültigkeit der Theorie nur für Parameter innerhalb eines beschränkten Bereichs geprüft hat, woher will man wissen, ob die Theorie auch für weit ausserhalb dieses Bereichs liegende Parameter gilt?

Mit Ihrem Argument hätte man vor der genauen Beobachtung der Merkurbahn auch sagen können, die Vorhersagen sind eine Frage der Geschwindigkeiten, und da wir die Gültigkeit der Newtonschen Mechanik für die uns zugänglichen Geschwindigkeiten geprüft haben, sollte sie auch für andere Geschwindigkeiten gelten.

Geschwindigkeiten, Häufigkeiten, Dauern, Wahrscheinlichkeiten - alles sind Dinge die präpariert und/oder gemessen werden, je nach Setup, und wo wir experimentelle Informationen nur innerhalb gewisser Grenzen kennen.

Wo ist der rationale Grund, Geschwindigkeiten anders zu behandeln?

TomS hat Folgendes geschrieben:
A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
t;]Mathematisch 100% abgesicherte Rechnungen zu Tunnelling und Thermodynamik kann man also zwar machen. Es hapert aber an der physikalischen Interpretation der Ergebnisse!

Das verstehe ich nicht. Eine Wahrscheinlichkeit p > 0 bedeutet, dass ich bei N Versuchen im Mittel Z > 0 Tunnelereignisse zähle. Inwiefern ändert sich die physikalische Interpretation, nur weil wir für ein Z=10 eine praktisch nicht erreichbares N benötigen?

Eine nicht erreichbare Häufigkeit N in der statistischen Mechanik ist analog zu einer nicht erreichbaren Geschwindigkeit v in der Newtonschen Mechanik. Wir können nicht wissen, wie sich die Theorie in diesem Bereich verhält, solange wir weit davon entfernt sind, solche N zu realisieren.

Ausserhalb des bestätigten Bereichs ist eine Extrapolation gefährlich, besonders wenn sie zu bizarren Vorhersagen führt, für die die experimentelle Korrekturmöglichkeit fehlt.

Wir können hoffen, aber das ist subjektiv, also keine Wissenschaft. In jedem Fall ist Hoffnung eine Sache des gesunden Menschenverstands und nicht eine der Logik. Wenn also die Logik auf etwas Bizarres führt und wir wissen, dass wir uns ausserhalb der experimentell bekannten Grenzen befinden, sollte der
gesunde Menschenverstand sein Urteil sprechen!

TomS hat Folgendes geschrieben:


Das betrifft doch nur die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Überprüfung einer zuvor mittels vernünftiger Argumente gewonnen Hypothese; es macht doch diese Hypothese nicht unvernünftig.

Aber es macht doch eine extreme Hypothese auch nicht vernünftig. Vernünftig sind nur die Argumente, aber nicht deren Anwendung ausserhalb des gesicherten Geltungsbereichs!
Qubit



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Beitrag Qubit Verfasst am: 21. Mai 2024 15:21    Titel: Antworten mit Zitat

Ich denke, man kann das "Falsifikationsprinzip" tatsächlich anhand der Gravitationstheorien gut nachvollziehen:

Falsifikation einer Theorie ist gegeben, wenn experimentelle Daten einer Theorie widersprechen und diese experimentellen Daten nicht durch andere physikalische Bedingungen erklärt werden können, die mit der Theorie kompatibel sind.

So gab es im Rahmen der Newtonschen Gravitationstheorie "Anomalien" der Uranusbahn, die mit einem weiteren äusseren Planeten erklärbar waren, der dann auch entdeckt wurde (Neptun) und so sogar diese Gravitationstheorie bestätigten.

So gab es eine "Anomalie" in der Periheldrehung des Merkurs, die mit einem weiteren inneren Planeten "Vulkan" erklärt werden sollte. Allerdings wurde dieser Planet nie entdeckt ((Mr. Spock sagt freilich was anderes..))

Aber es gab später die Einsteinsche Gravitationstheorie, die genau diese Anomalie erklären konnte.
Dabei zeigte sich nicht nur die Gültigkeitsgrenze der Newtonschen Gravitationstheorie, sondern sie war sogar als Grenzfall in der neuen Gravitationstheorie "enthalten".
Also, man kann noch zusätzlich sowas wie ein "Kohärenzprinzip" neben das "Falsifikationsprinzip" stellen.

So ist die klassische Mechanik im Limes c gegen unendlich in der Relativitätstheorie und h gegen Null in der Quantenmechanik enthalten.

PS: Vor ähnlicher "Anomalie" stehen wir übrigens heute auch mit Dunkler Materie und Einsteinscher Gravitationstheorie..
antaris



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Beitrag antaris Verfasst am: 21. Mai 2024 15:58    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:
Wir können hoffen, aber das ist subjektiv, also keine Wissenschaft. In jedem Fall ist Hoffnung eine Sache des gesunden Menschenverstands und nicht eine der Logik. Wenn also die Logik auf etwas Bizarres führt und wir wissen, dass wir uns ausserhalb der experimentell bekannten Grenzen befinden, sollte der
gesunde Menschenverstand sein Urteil sprechen!


Aufgrund der Subjektivität ist es aber schwierig "den gesunden Menschenverstand" auf alle Menschen zu verallgemeinern.


Ich ergreife die Chance und erlaube mir folgende Frage:

Was sagt Ihr gesunder Menschenverstand (oder die Logik) über die Aussage aus, dass das Prinzip aus Ursache und Wirkung beim Urknall nicht mehr gelten soll, die Wirkung Urknall also ohne messbare Ursache innerhalb des für uns sichtbaren Universum seinen Ursprung hatte?
A.Neumaier
Gast





Beitrag A.Neumaier Verfasst am: 21. Mai 2024 18:16    Titel: Antworten mit Zitat

antaris hat Folgendes geschrieben:

Was sagt Ihr gesunder Menschenverstand (oder die Logik) über die Aussage aus, dass das Prinzip aus Ursache und Wirkung beim Urknall nicht mehr gelten soll, die Wirkung Urknall also ohne messbare Ursache innerhalb des für uns sichtbaren Universum seinen Ursprung hatte?

Das Prinzip aus Ursache und Wirkung besagt aus meiner Sicht, dass die Wirkung (Zustandsänderung) jeder Ursache (Kraftänderung) erst unmittelbar nach dem Eintreten der Ursache einsetzt. Das gilt auch bei einem zeitlichen Beginn des Universums.

Unabhängig davon ist beim heutigen Stand der Dinge unklar, ob der Urknall die vermutete aber unbekannte Vereinigung der Quantenfeldtheorie mit der allgemeinen Relativitätstheorie überleben wird. Da enthalte ich mich einer definitiven Meinung (wegen meines gesunden menschenverstands).
antaris



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Beitrag antaris Verfasst am: 21. Mai 2024 20:42    Titel: Antworten mit Zitat

Danke für die Antwort.
Darf ich annehmen, dass Sie sich gegenüber Theorien, mit o.g. Vorhersagen fernab vom jeweiligen derzeitig überprüfbaren Gültigkeitsbereich, generell enthaltend äußern?

Die folgende Frage gehört wohl eher in Ihren thermale Interpretation Thread:
Ist ihr Weltbild rein deterministisch geprägt oder sind in diesem auch "echte Zufälle" real, wie z.B. die Wahrscheinlichkeiten der QM von der Mehrheit vertreten werden?
Aruna



Anmeldungsdatum: 28.07.2021
Beiträge: 881

Beitrag Aruna Verfasst am: 22. Mai 2024 01:18    Titel: Antworten mit Zitat

A.Neumaier hat Folgendes geschrieben:

Wir haben aus der Koexistenz der Newtonschen Mechanik und der allgemeinen Relativitätstheorie gelernt, dass zu einer physikalischen Theorie immer ein verifizierter Gültigkeitsbereich gehört.


Schrumpft der nicht mit der zur Verfügung stehenden Messgenauigkeit?
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